Noch vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges in der Ukraine am 24. Februar ordnete Präsident Wolodymyr Selenskyj wegen der Anerkennung der separatistischen sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Russland eine Teil-Einberufung im Land an. Männer zwischen 18 und 60 Jahren war damit verboten, das Land zu verlassen. Seit Beginn der russischen Invasion gilt in der Ukraine das Kriegsrecht. Aber nicht alle Männer wollen für die Verteidigung der Heimat zur Waffe greifen.
Rudi Friedrich, Geschäftsführer der internationalen Arbeit für Kriegsdienstverweigerung und Deserteure Connection e.V., erklärte in einem Interview mit NDR Info, es gebe derzeit nur Schätzungen über die Zahl von Kriegsdienstverweigerern in der Ukraine. Friedrich berichtete dem Sender, dass im Nachbarland Moldawien rund dreitausend Ukrainer Unterschlupf gesucht hätten, weil sie nicht kämpfen wollen. Insgesamt, so schätzt Friedrich, hätten einige Tausend wehrpflichtige und wehrfähige ukrainische Männer das Land verlassen, weil sie sich nicht an dem Krieg beteiligen wollten.
75 Prozent der Bevölkerung von Regelung ausgeschlossen
Das Recht, den Dienst an der Waffe zu versagen, ist dem Gespräch zufolge in der Ukraine selbst in Friedenszeiten sehr begrenzt und entspricht nach Einschätzung von Friedrich nicht den internationalen Richtlinien. Einzig aus religiösen Gründen kann der Dienst nach ukrainischem Recht an der Waffe abgelehnt werden und auch nur dann, wenn die Person einer von zehn im Gesetz benannten Glaubensgemeinschaften angehört.
Ein Beschluss des Ministerkabinetts vom November 1999 enthält eine konkrete Aufzählung der religiösen Organisationen, deren Glaubenslehre den Gebrauch von Waffen demnach verbietet.
Dazu gehören laut der Verordnung des Ministerkabinetts der Ukraine Nr. 2066 vom 10. November 1999 (Übersetzung durch das Institut für Ostrecht):
- Reformierte Adventisten
- Siebenten-Tags-Adventisten
- evangelikale Christen
- evangelikale Baptisten
- Pokutnyky
- Zeugen Jehovas
- charismatische christliche Kirchen (und Kirchen, die gemäß ihrer registrierten Satzung diesen gleichgestellt sind)
- Christen des evangelikalen Glaubens (und Kirchen, die gemäß ihrer registrierten Satzung diesen gleichgestellt sind)
- Christen des evangelischen Glaubens
- Gesellschaft für das Krishna-Bewusstsein
Bei diesen Organisationen kann es sich nach IOR-Angaben „sowohl um solche handeln, deren Satzung registriert ist, als auch solche ohne Registrierung der Satzung“. Antje Himmelreich, wissenschaftliche Referentin für russisches und ukrainisches Recht am IOR, bewertet auf Anfrage die rechtliche Situation: „Ein Recht auf Ersatzdienst hat in der Ukraine folglich nur, wer einer religiösen Organisation angehört, deren Glaubenslehre den Gebrauch von Waffen verbietet.“
Schätzungsweise sind von den rund 41 Millionen Ukrainer rund 1,1 Millionen katholisch und 1,2 Millionen evangelisch, darunter Baptisten als die größte protestantische Gruppe.
Allerdings gehören rund 75 Prozent der Ukrainer einer orthodoxen Kirche an. Die Mehrheit der Christen in der Ukraine hat demnach also keine Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern. Auch Soldaten und Reservisten haben dem NDR-Bericht zufolge kein Recht, den Dienst an der Waffe zu versagen. Wer sich in der Ukraine dem Dienst an der Waffe entzieht, muss laut Friedrich mit einer Gefängnisstrafe von mehreren Jahren rechnen.
Die Frage, ob Kriegsdienstverweigerer in Deutschland ein Recht auf Asyl haben, stellt sich derzeit nicht, denn alle ukrainischen Staatsbürgern wird wegen der humanitären Notlage in dem Land derzeit für zwei Jahre Asyl in Deutschland gewährt. Friedrich fordert deshalb, dass Deutschland ukrainischen Männern, die nach ihrem Asyl-Aufenthalt hier in ihrer Heimat den Kriegsdienst verweigern möchten, weiter Schutz gewährt.