Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Uni Jena, spielt regelmäßig in seiner Heimatgemeinde in Grafenhausen im Hochschwarzwald im Gottesdienst die Orgel. Wegen des Lockdowns sei er fast nur noch zu Hause im Schwarzwald und spiele deshalb sehr oft, sagte er gegenüber Christ & Welt. Er mische dabei geistliche Lieder auch manchmal mit modernem Liedgut oder Rocksongs. „Gestern habe ich ‚A Whiter Shade of Pale‘ eingebaut“, so Rosa. „Dann gab es gestern noch ein Klezmer Halleluja, das wir mit ‚Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen‘ zusammengebaut haben.“ Rosa befasst sich mit Subjekt- und Identitätstheorien sowie der Beschleunigungstheorie. Im Interview mit pro sprach der Soziologe 2016 über die Rolle des Glaubens in seiner Theorie zur „Resonanz“.
Er habe schon früh Klavier gelernt und es dann auch mit Orgelunterricht versucht. „Mit 14 Jahren hat sich meine Schwester konfirmieren lassen. Da habe ich eine Orgel gehört. Also diese Orgel, die hat mich geflasht. Da war ich elf oder zwölf. Ich war tief berührt, ich konnte diese Kraft, diese Gewalt, gar nicht begreifen. Noch als Schüler habe ich darauf bestanden, Orgelunterricht zu bekommen.“
Rosa beschreibt seine Leidenschaft für das Orgelspielen so: „Es gibt Lieder, von denen kann ich nicht genug kriegen.“ Das Spielen könne manchmal bis drei Uhr nachts gehen. „Im Moment bin ich total bei ‚Jesus bleibet meine Freude‘ von Bach. Da bin ich süchtig. Ich kann das endlos spielen. Es geht dann auch in meinem Kopf weiter, wenn ich zu spielen aufhöre. Das ist für mich wie Sternegucken. Da vergesse ich auch alles andere.“
„Kein Mensch mit Gehirn mag das. Aber ich.“
Die Musik gehe dabei „am Gehirn vorbei in die Seele“. Auch das Wechselspiel mit der Gemeinde sei etwas, „das nicht übers Gehirn geht“: „In der Musik liegt eine Wahrheit, die tiefer ist als Worte.“ Auf die Frage, ob er gläubig sei, antwortet Rosa: „Mit dem dogmatischen Gehalt tu ich mich schwer. Da will ich nichts mit zu tun haben. Aber auf einer nicht kognitiven Ebene, auf der Ebene der Orgel sozusagen, bin ich tiefgläubig.“
Er möge Lieder, die sonst nur wenige mögen, etwa die christlichen Lieder „Herr, wir bitten, komm und segne uns“ und „Ins Wasser fällt ein Stein“. Rosa: „Kein Mensch mit Gehirn mag das. Aber ich. Kinder und der Rosa mögen so was.“ Er schwärmt zudem vom Lied „Großer Gott, wir loben dich“: „Das liebe ich. Das kann ich jahrelang spielen.“ Rosa erklärt: „Sobald die Orgel erklingt, wird ein religiöser Sinn geweckt. Bei einer religiösen Erfahrung entsteht etwas, das ich vertikale Resonanz nenne. Ich fühle mich aufgehoben in einer Antwortverbindung zwischen mir und dem Urgrund des Seins, oder Gott oder der Natur.“
Die Orgel ist das Instrument des Jahres 2021. Aus diesem Anlass widmet sich Christ & Welt der Königin der Kircheninstrumente mit einer kleinen Serie.
2 Antworten
Hartmut Rosa in der „Zeit“. Sicher lesenswert.
Was an Hartmut Rosa liegt, – für die „Zeit“ ist lesenswert doch eher eine Ausnahme.
Denn ich habe mir mittlerweile abgewöhnt, die „Zeit“ zu lesen.
Warum?
Was die „Zeit“ unter „Jugendkultur“ versteht, das machen die folgenden Überschriften deutlich.
Heute bei „Zeit-Online“ zu finden, von abstoßend bis absurd:
– Masturbation: „Mein Vibrator liegt den ganzen Tag einsatzbereit bei mir im Bett“
Lisa masturbiert mittlerweile auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch. Eva kann dank ihres Druckwellenvibrators besser einschlafen. So helfen Sextoys durch den Lockdown.
– „Corona hat Täter*innen hervorgebracht, die vorher gar keine waren“
– Warum wir das Wort „Liebe“ besser abschaffen sollten
Soweit also, so schlecht, die „Zeit“
Ein interessantes Interview mit Hartmut Rosa habe ich allerdings hier gelesen:
Im Gespräch über einen blinden Fleck der Moderne.
Die atemlose Jagd nach einem gesünderen, besseren und längeren Leben bringt unsere To-do-Listen zum Explodieren.
Vor lauter Kontrollieren und Erledigen gerät leicht aus dem Blick, dass wir gerade die Momente des gelingenden Lebens, nach denen wir uns sehnen, nicht planen und herstellen können.
Die beglückende Erfahrung, mit der Welt in Beziehung zu sein, in Resonanz, wie es der Soziologe Hartmut Rosa formuliert, erfordert die Bereitschaft zu hören, Verletzbarkeit anzuerkennen und sich auf ein offenes Ergebnis einzulassen.
https://melchiormagazin.com/hoeren-und-antworten/
Lieber Herr Rosa, Ihre Bücher haben meine Frau und ich mit großem Interesse gelesen und miteinander erwogen. Ihr Bekenntnis zur Orgel und ihrer Musik erfüllt mich mit großer Freude. Mit 4 Jahren habe ich selbst Klavier spielen gelernt, mit 12 Bach und die Orgel in der Heimatkirche entdeckt, eine Walcker-Orgel. Alles, was Sie dazu sagen, kann ich voll und ganz bestätigen mit nun bald 78 Jahren. Mit dem Gemeinde-
gesang als Form der „vertikalen Resonanz“ dient jede/r Organist/in seit Luther und Bach, in beiden Konfessionen, der „Öffnung der Herzen“. „Kein Mensch mit Gehirn mag das. Aber ich,“ schreiben Sie. Dazu
brauchen Sie nur einen Blick in Schleiermachers „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern“ zu werfen, um von diesem Großen unter unseren Gebildeten bestätigt zu werden. Herzlichen
Dank !
Peter Welinsky