In Deutschland leben laut einer Statista-Erhebung von 2021 22,7 Millionen Menschen in Einzelhaushalten. Schätzungsweise 16,8 Millionen von ihnen sind Singles. Ihre Bedeutung wächst nicht nur generell, sondern auch in und für christliche Gemeinden. Allerdings bekommen sie laut Johanna Weddigen auch immer wieder zu hören, dass ihr Beziehungsstatus einer Veränderung bedarf. „Die Vorstellung, dass etwas nicht stimmt, wenn eine Person allein bleibt, scheint weit verbreitet“, findet sie.
Die Hamburgerin erforscht im Auftrag der CVJM-Hochschule Kassel im Bereich Diakoniewissenschaften die Rolle von Singles in christlichen Gemeinden. 2020 erschien eine Studie, für die sie mit dem Theologen Tobias Faix und dem Sozialwissenschaftler Tobias Künkler 3.200 Singles befragte. Erschrocken ist sie darüber, dass sich 30 Prozent der Befragten durch ihr Singledasein stigmatisiert fühlten. Über die Hälfte wünschte sich, dass sie besser in das Gemeindeleben eingebunden werden.
Theologisch wichtigere Themen als der Beziehungsstatus
In vielen Gemeinden herrsche immer noch das „idealisierte Bild der bürgerlichen Kleinfamilie als Originalzustand“. Viele Singles bekämen vermittelt, „alleine nicht genug zu sein. Das belastet die eigene Identität enorm und führt zu Scham“. Fachleute sprechen von „Single Shaming“. Weddigen erinnert sich an eine Predigt, in der der Satz fiel: „Familie ist das Beste, das die Bibel zu bieten hat.“ Abgesehen davon, dass das nicht stimme, werde einem Single damit gesagt: Du hast leider das Beste aus der Bibel verpasst. „Der Satz fiel beiläufig und ich glaube, der Prediger hat es nicht mal bewusst gesagt, aber genau das sind die Momente, wo man sich als Single in der Gemeinde nicht wohlfühlt.“
Viele verheiratete Pastoren predigten aus ihrer Lebenswelt: „Das ist logisch und anteilig auch gut“, sagt Weddigen. Aber die Predigten sollten auch Menschen anderer Lebensformen ansprechen. Ein Pastor habe ihr kürzlich erzählt, dass die Predigtvorbereitung länger dauere, seit er das beherzige. Dadurch seien die Predigten besser geworden, hätten ihm seine Gemeindemitglieder gespiegelt.
Weddigen hält es für problematisch für beide Seiten, wenn die Familie als theologisch richtigere Version vertreten werde. Denn auch Familien fragten sich manchmal, warum ihr stressiges und nerviges Leben die angeblich „beste Form des Zusammenlebens sein soll“. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, heißt es in der Schöpfungsgeschichte aus dem Munde Gottes. Trotzdem gebe es theologisch wichtigere Themen als die Unterscheidung zwischen Single und Familie, sagt Weddigen. Viele biblische Schlüsselfiguren wie etwa der Apostel Paulus oder Jesus selbst lebten als Singles. In der Kirchengeschichte sei die Berufung in ein zölibatäres Leben sogar etwas Besonderes und geistlich Erstrebenswertes gewesen.
Singles nicht als Menschen mit Defizit sehen
Gemeinden machten – oft unbewusst – den Fehler, Singles als Menschen mit Defizit zu sehen. Auch sie wurde öfter darauf angesprochen, warum sie denn noch niemanden gefunden habe, oder sie erhielt Empfehlungen, wer doch ganz gut zu ihr passen könnte. „Das hat mich irritiert, da ich meistens gerne Single war. Ich hatte in solchen Momenten schon das Gefühl, dass meine Lebensform nicht als die ideale angesehen wurde.“ Weddigen hält es für falsch, Menschen derart auf ihre Beziehungsformen zu reduzieren. In Vorstellungsrunden werde oft schon im zweiten Satz der Familienstatus erwähnt. Stattdessen könne man doch einfach Charaktereigenschaften und Hobbys aufzählen.
Das Thema gehöre auch in die theologischen Ausbildungsstätten. Zukünftige Hauptamtliche müssten für sich persönlich und für die Gemeinde um das Thema wissen. Den Gemeinden empfiehlt sie, Angebote zu entwickeln, in denen der Beziehungsstatus keine Rolle spielt und in denen sich Menschen aller Lebensformen wohlfühlen. Familien könnten Singles aus der Gemeinde zum Mittagessen einladen: „Das kann ein Gewinn für beide Seiten sein. Wir sind ja als Gemeinde gemeinsam unterwegs.“
Manchmal tue der Austausch mit Gleichgesinnten gut, ein anderes Mal wolle man die Herausforderungen und schönen Erlebnisse mit Menschen anderer Lebensformen teilen. Angebote explizit für Singles müssen nicht kompliziert sein. In ihrer Gemeinde in Hamburg hätten zwei Frauen mit einem niedrigschwelligen Format über 100 Besucher erreicht. Wenn bei Sommerfesten der Gemeinde jedoch vor allem Angebote für Eltern mit Kindern gemacht wurden, wie etwa Kinderschminken, empfand sie das als schwierig. „Hier hätte ich mir mehr ein Event gewünscht, das auch mich anspricht und wohin ich auch meine Freunde einladen kann.“
Corona rückt Gemeinden in den Fokus
Viele christliche Singles lebten in der Hoffnung, dass Gott einen Partner für sie bereithält. Das sollten Gemeinen verantwortungsvoll begleiten. Denn: „Das kann auch zu Glaubenskrisen führen.“ Wer voll darauf vertraue, dass Gott seine Wünsche erfülle, könne enttäuscht werden. Manche habe dies jedoch noch einmal näher zu Gott gebracht: „Nicht jeder fällt vom Glauben ab. Aber es führt dazu, dass man ein neues Gottesbild entwickelt.“
Wissenschaftlich ist das Thema Singles und christliche Gemeinden bisher kaum erforscht. Vorreiter ist die „Church of England“. Sie befragte bereits 2014 7.000 Singles und leitete Handlungsempfehlungen daraus ab. Ein Ergebnis: Viele Singles fühlten sich in der Kirche als nicht richtig oder nur als „Menschen zweiter Klasse“ wahrgenommen. Auch die Singles selbst wurden dazu animiert, sich einzubringen. Daraus hat sich das Portal „Single-friendly-church“ entwickelt. Dort gibt es Tipps für Gemeinden, aber auch Online-Angebote für Singles und Informationen für Interessierte.
Weddigen ist überzeugt: Wenn christliche Gemeinden Menschen erreichen möchten, müssen sie deren Lebenswelten im Blick haben. Um mehr darüber zu erfahren, wie das für die wachsende Gruppe von Singles aussehen kann, hofft sie auf weitere Studien. Ermutigt haben sie die Rückmeldungen von Singles zu den Untersuchungen der CVJM-Hochschule. „Viele waren froh, dass sie endlich mal gehört werden und jemand nach ihren Bedürfnissen gefragt hat.“ Die Corona-Pandemie habe noch einmal neu die Rolle der Gemeinden in den Fokus gerückt: „Das würde ich gerne noch einmal genauer untersuchen.“
Viele Gemeinden hätten sich in der Zeit toll um die Singles in ihren Reihen gekümmert. Andere seien extrem einsam gewesen. Weddigen wünscht sich Gemeinden, die das Potenzial der Singles sehen. Und sie wünscht sich Singles und Familien, die authentisch über die Vorzüge und Nachteile der eigenen Lebensform sprechen. Allen Singles schreibt sie ins Stammbuch, Verantwortung zu übernehmen und ihre Wünsche offen zu äußern. „Singles sind keine Bedürftigen, denen man helfen muss. Sie gehören selbstverständlich zur Gemeinde.“ Wenn sich dieses Bild durchsetze, sei man schon einen großen Schritt weiter.
Johanna Weddigen, Jahrgang 1990, lebt in der Single-Hauptstadt Hamburg. Sie war beim Erscheinen der Studie noch Single, mittlerweile aber nicht mehr. Weddigen ist in der Geschäftsleitung der Missionsgesellschaft Alpha Deutschland tätig und hat einen Lehrauftrag an der CVJM-Hochschule in Kassel zum Thema Inklusion. 2020 haben Tobias Faix, Tobias Künkler und Johanna Weddigen erforscht, wie Singles leben, glauben und was sie beschäftigt. 3.200 von ihnen wurden zu den Themen Alltag, Glaube, Sexualität, Kirche und Partnersuche befragt. In diesem Jahr ist ein weiteres Buch zum Thema erschienen. Das bietet praktische Inspirationen für Gemeinden und ermutigt dazu, Singles neu in den Blick zu nehmen. Beide Bücher sind bei SCM R. Brockhaus erschienen.
Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 5/2021 von PRO – das christliche Medienmagazin. Sie können die aktuelle Ausgabe hier bestellen.
7 Antworten
„In Deutschland leben laut einer Statista-Erhebung von 2021 22,7 Millionen Menschen in Einzelhaushalten. Schätzungsweise 16,8 Millionen von ihnen sind Singles.“ Ein Fünftel der deutschen Bevölkerung (Kinder mit eingerechnet, sonst wären es ja noch viel mehr…) sind also Singles. Statistisch jede 5. Person, die mir begegnet. Erschreckend. Sind die (mehrheitlich) beziehungsunfähig?? Nicht zu glauben.
@E.Weber
Ihre Frage zur Beziehungsunfähigkeit ist eine wirklich geschmacklose und boshafte Unterstellung.
Ich habe in konservativen Kreisen so manche beziehungsunfähige, verheiratete Menschen kennengelernt – denn wenn Ehe so auf den non plus ultra-Sockel gestellt wird, ist die Gefahr sehr hoch, dass sich Menschen nicht prüfen, bevor sie eine Ehe eingehen, ob sie dafür überhaupt geeignet sind. Natürlich wird nach außen immer der fromme Schein gewahrt, aber in so manchen frommen Ehen spielen sich Tragödien ab. Bis hin zu sexuellem Missbrauch, der unter den Teppich gekehrt und die Täter frömmlerisch geschützt werden.
„Geschmacklose und boshafte Unterstellung…“ Wieso denn das ? Wenn Sie meine weiteren Kommentare lesen, sehen Sie, dass ich sage: Beziehungen bedeuten Arbeit, Investition, Sich-einbringen in eine Beziehung. Eine Beziehung lebt und überlebt nicht automatisch, ich muss was dafür tun! Was eben viele nicht einsehen (wollen).
Die Evangelische Landeskirche in Baden hat vor grob 10 Jahren erkannt, Singles fallen in den Gemeinden durch. Bis auf die Großstädte hat sich da auch nichts getan. Es gibt keine Angebote für Menschen die für den Jugendkreis zu alt sind und für den Seniorenkreis zu jung. Kann man mit Hauskreisen nichts anfangen, bzw. sind sie einem zu persönlich und verbindlich gibt es praktisch nichts. Nicht jede/r möchte jede Woche in einem anderen Haushalt sitzen, oder auch alle Leute aus einer Gruppe bei sich in der Wohnung.
Viele Veranstaltungen sind auf Paare ausgelegt. Bei manchem Männertag gab es kaum ein Seminarthema für Singles, aber viel über Beziehung und Kindererziehung.
Lieber Herr Weber,
Single=beziehungsunfähig?
Da sage ich mal vorsichtig naja…
Beziehungsunfähig so gemeint: Beziehungsfähig hinsichtlich auf EINEN Mitmenschen. Die gesellschaftliche Beziehungsfähigkeit will ich nicht in Abrede stellen. Keineswegs.
Es wird schon vielfach so sein.