Florida Zimmermann liebt Menschen und die Schweiz. Bis sie in Bern gelandet ist, war es ein weiter Weg. Mit dem „Offnigs Huus“ – einer Lebensgemeinschaft für junge Erwachsene in schwierigen Lebenssituationen scheint sie an ihrem Ziel angekommen zu sein.
Geboren ist die heute 47-Jährige im Libanon. Ihre Mutter versucht das Mädchen alleine durchzubringen. Wer Floridas richtiger Vater ist, erfährt diese erst viele Jahre später. Zimmermann wächst mitten in Kriegswirren auf. Ihr Heimatland versinkt Ende der 70er Jahre im politischen Chaos. Die Spannungen zwischen Christen und arabischen Nationalisten nehmen zu.
Gewalt eskaliert und Todesangst wird zum täglichen Begleiter. Zimmermann erinnert sich noch heute an Bilder von Kinderleichen und Zerstörung: „Dabei wollten die meisten Menschen den Krieg nicht.“
Mutter und Tochter fliehen aufgrund der politischen Ereignisse nach Deutschland. Die beiden stranden zunächst in Berlin und später in Gelsenkirchen. Sie begegnen Maria, die den beiden von Gott erzählt und sie mit in einen Gottesdienst der Bergmannsmission nimmt. Für die Familie ist das eine „willkommene Abwechslung“.
Die Begegnung mit der dortigen Pastorenfamilie Feurer sollte Zimmermanns Leben nachhaltig prägen. Dort erlebt sie Geborgenheit, Wärme und ein intaktes Familienleben. Während ihre Mutter den Lebensunterhalt bestreitet, darf Florida in der Woche als Pflegekind beim Pastor und seiner Familie leben: „Ich durfte hier richtig Kind sein“, erinnert sie sich an das unbeschwerte Leben.
Zum Hassen ausgebildet
„Meine Mutter suchte im Laufe ihres Lebens Liebe und Annahme bei Männern. Ich lernte in den Kinderstunden der Gemeinde, dass es auch noch einen himmlischen Vater gibt, der mich liebt“, erzählt die dunkelhaarige Frau. Doch das Glück währt nicht lange. Das Leben bleibt ein Wechselbad der Gefühle: Zunächst verlängern die deutschen Behörden die Aufenthaltsgenehmigung nicht.
Als sich die Lage und die behördliche Entscheidung ändern, hat die Mutter bereits eine Unterkunft bei Verwandten in Kuwait organisiert. Doch auch dort dürfen sie nur drei Monate bleiben, bevor sie zurück in den Libanon gehen, wo gerade ein schrecklicher Stellvertreterkrieg zwischen Palästinensern und den Israelis tobt. Aber der Familie fehlt die Alternative.
Florida ist keine zehn Jahre alt, als sie durch Malik, einen Bekannten ihrer Mutter, in die Fänge der radikalen Amal-Miliz gerät. In die Schule geht sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Der Islam bietet ihr Gemeinschaft, Anerkennung und Sicherheit: „Darüber hinaus war ich schon immer sehr begeisterungsfähig.“ Sie gehört dazu, zitiert den Koran und lernt, Menschen zu hassen, Waffen zu schmuggeln und im Zweifel auch Attentate zu verüben. Die wirklichen Ziele der Miliz kann sie damals noch nicht verstehen.
Sie strebt danach, alle Gesetze des Islams einzuhalten. Aber wirkliche Antworten findet sie nicht. In ihrem Hinterkopf wabern in den folgenden Jahren immer noch die Geschichten, die sie in der Gemeinde in Deutschland gehört hat. Floridas Mutter nimmt wieder Kontakt zu Familie Feurer auf und bittet sie, bei der Ausreise aus dem Libanon zu helfen. Feurers leben mittlerweile in der Schweiz und können das Kind als Pflegetochter zu sich holen.
Viele Lebensthemen noch nicht aufgearbeitet
Das Mädchen wagt den Schritt und verlässt das libanesische Minenfeld. Im Zusammenleben mit den Feurers erinnert sie sich an die Geschichten von dem Gott, der so ganz anders sein sollte, als der, den sie im Islam angebetet hat. Nach zwei Jahren in der Schweiz will sie ihr Leben dem christlichen Gott anvertrauen. Florida merkt, wie eine unglaubliche Last von ihr abfällt. Doch in der Schweiz schlittert die Teenagerin in eine Identitätskrise. Sie stellt sich existenzielle Lebensfragen.
Im Rückblick wird ihr klar, dass viele ihrer Lebensthemen von damals noch nicht aufgearbeitet sind. Der Krieg verursacht Alpträume, der leibliche Vater fehlt ihr mehr als gedacht und Missbrauchserlebnisse der Vergangenheit kommen hoch. Angst und Panik werden ständige Begleiter. Nach außen versucht sie den Schein zu wahren und sich nichts von ihren Existenzängsten anmerken zu lassen.
Sie findet heraus, dass ihr Vater aus Zypern kommt. Er hat keinen Kontakt zu ihr und ihrer Mutter gehalten, weil Floridas Mutter nicht seine richtige Frau ist. Die Mutter hat sich mit der Situation arrangiert, die Tochter nicht: „Ich durfte nie lernen, dass ein Vater Halt geben kann und mich beschützt.“
Zimmermann macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Eine Diabetes-Diagnose ist der nächste Rückschlag, der ihr Leben verändert. Zudem zerbricht in dieser Zeit ihre langjährige Beziehung. Zimmermann ist frustriert und hoffnungslos: „Ich redete mir ein, zu sensibel für diese Welt zu sein.“ Mit einer Überdosis Insulin geht sie an den Berner Fluß Aare und möchte ihrem Leben ein Ende setzen. Passanten entdecken sie rechtzeitig, rufen einen Rettungswagen und verhindern den Suizid. Im Rückblick sagt Zimmermann: „Gott hat mir eine zweite Chance gegeben. Meine Not war ihm nicht zu klein.“
Sie lässt die alte Umgebung hinter sich, aber ihre Zweifel und Probleme bleiben. Sie investiert viel Zeit in ihr Hobby Tanzen, trainiert junge Menschen und möchte für sie da sein. So lernt sie Mike kennen. Er wird der neue starke Mann an ihrer Seite. 1999 geben sie sich das Ja-Wort. Nach außen hin gelten die beiden Christen als Vorzeige-Paar, aber die Beziehung hält nicht lange. „Für mich und mein christliches Umfeld war eine Scheidung keine Option“, sagt sie. Obwohl beide noch auf eine gemeinsame Zukunft hoffen, zerbricht die Ehe.
Vision vom offenen Haus
In dieser Phase lernt sie ihren heutigen Ehemann Christian kennen. Er hat bis dahin wenig mit dem christlichen Glauben am Hut, aber auch er trifft eine Entscheidung für Jesus. Sie entscheiden sich dafür, gemeinsam Floridas Vision von einem offenen Haus zu leben. Dahinter steht der Gedanke, gemeinsam mit perspektivlosen Erwachsenen unter einem Dach zu leben und in einer großen Lebensgemeinschaft Sorgen und Nöte zu teilen.
Sie investieren zunächst viel Zeit in die Jugendarbeit ihrer Gemeinde in Bern. Die Menschen sind gerne bei ihnen zu Gast, was das Ehepaar in seinem Entschluss bestärkt: „Gott hat uns aufs Herz gelegt, auf die Menschen in unserem Umfeld zu schauen.“ Und so wird die Umsetzung der Vision greifbar.
Nach und nach suchen immer mehr Menschen Obhut bei der Familie. Zunächst teilen sie in der Innenstadt von Bern ihre Zimmer mit den Besuchern, mittlerweile in Bremgarten vor den Toren der Stadt, wo sie mehr Platz haben. Hier dürfen sie ein kommunales Gebäude mieten und nutzen. Das dreistöckige Haus hat zwölf Zimmer. Finanziert wird das „Offnigs Huus“, wie es auf Schwyzerdütsch heißt, durch Spenden, den Beitrag, den die Jugendlichen für Miete und Essen leisten können, sowie über das Gehalt der halben Stelle von Christian Zimmermann als Lehrer.
Ganz bewusst soll das „Offnigs Huus“ auch in den Ort hineinwirken. Im „Café Auszeit“ bieten die Zimmermanns Zeit, Kaffee und Kuchen an, was Dorfbewohner gerne annehmen. Die Menschen, die ihr Leben mit Florida, Christian und der zwölfjährigen Tochter Leilani teilen, haben unterschiedliche Probleme: Krankheiten, Drogen, schwierige Familienverhältnisse und vieles mehr.
„Ich musste lernen, dass ich nicht verantwortlich bin für die Heilung der Menschen, die wir begleiten“, sagt Florida Zimmermann. Wer einzieht, darf selbst entscheiden, wie lange er dort wohnt. Gemeinsam mit Florida und Christian setzen die jungen Mitbewohner sich neue Ziele für ihr Leben. Und sie schauen vor allem nach vorne.
Vielen Bewohnern hilft die feste Familienstruktur, in die sie intensiv eingebunden werden. So sind Zimmermanns in 16 Jahren für viele zur zweiten Familie und einem Ort der Geborgenheit geworden: „Du kannst jetzt dein Leben frei gestalten, trotz allem, was du erlebt hast“, lautet ihr Credo.
Bei den Menschen sein, wenn alles ins Wanken gerät
Bis zu elf Personen haben zu Spitzenzeiten in der Lebensgemeinschaft gewohnt. Aktuell sind sie zu sechst. Gerade heute kam wieder ein Anruf, ob Zimmermanns jemanden in einer Notsituation aufnehmen können. Die Zimmermanns haben ihre Berufung gefunden. Sie wissen, dass sie sich dabei angreifbar und verletzlich machen.
Wenn sie ihr Leben und ihre Zeit mit ihren Mitbewohnern teilen können, geht dem Ehepaar das Herz auf. Abstriche im eigenen Familienleben gehören dazu. Sie durften erleben, wie junge Menschen innerlich geheilt wurden und neu ins Leben starten konnten. „Wir sehen diese Arbeit als Privileg an“, resümiert Florida.
Wenn alles ins Wanken gerät, möchte Florida mit ihrem Mann für diese Menschen da sein. „Gott hat immer wieder Türen geöffnet, wenn es eng wurde“, erklärt das Paar rückblickend. Ein passendes Bild. Man kann erahnen, dass Floridas Lebensgeschichte einen entscheidenden Anteil daran hat.
Dieser Text ist in der Ausgabe 3/2022 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.