Meinung

Alles dreht sich um Jesus

Die Passionsspiele in Oberammergau sind weit mehr als ein Theater-Spektakel. Hier dreht sich alles um Jesus – und das geht zu Herzen.
Von Jonathan Steinert
Passionsspiele Oberammergau, Jesus, Kreuzigung und Tod

Dieser Jesus sieht wirklich erbärmlich aus. Das dunkelblonde halblange Haar zerfranst, eine Dornenkrone auf dem Kopf, blutverschmierter Oberkörper, Lendenschurz, ein roter Umhang über die Schultern geworfen. Keuchend, wankend steht er da, rechte und linke Hand jeweils an ein Seil gebunden, fest im Griff römischer Soldaten. Zuvor haben sie ihn ausgepeitscht. Und auch wenn klar ist, dass das nur ein Schauspiel ist, die Peitschen nicht auf den Rücken des Mannes knallen, sondern nur auf den Boden, so ist es doch ein bedrückendes Bild.

„Er war der Allerverachtetste und Unwerteste … er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg.“ Der Text aus dem Buch Jesaja, das Gottesknechtslied, wurde im Gottesdienst gelesen vor der Premiere der Oberammergauer Passionsspiele am 14. Mai. Und dieses Bild bot sich dann auch auf der Bühne. Ganz und gar nicht voyeuristisch, vielmehr irritierend.

Und erschreckend, weil man sich dabei ertappt, wie leicht einem der Spott und die Häme der Soldaten selbst über die Lippen gehen könnten. Wie bekannt einem die Situation eines Petrus vorkommt, zu leugnen, etwas mit Jesus zu tun zu haben. Oder wie Judas schier zu verzweifeln über einen folgenschweren Fehler, der nicht rückgängig zu machen ist.

Und dann hängt dieser Jesus am Kreuz. Nachdem er verschieden ist, abgenommen wurde und im Leichentuch auf dem Boden liegt, fragt man sich kurz, ob der Mann auf der Bühne wirklich noch lebt.

Eine vierhundertjährige Tradition

Die Passionsspiele in Oberammergau sind ein Spektakel. Einerseits. Allein schon die Dimension mit rund 1.400 Darstellern und 400 Kindern, einer monumentalen Bühne, fünf Stunden Spieldauer, lebenden Pferden, Kamelen, Schafen, Tauben und Eseln und 450.000 erwarteten Besuchern bei mehr als einhundert geplanten Aufführungen in diesem Jahr.

Die Premiere ist zugleich ein Stelldichein von Promis aus Politik, Kultur und Medien: Ministerpräsident Markus Söder war ebenso da wie Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, Fernsehmoderator Frank Plasberg, Schauspieler Ben Becker oder Medienunternehmer Mathias Döpfner sowie einige kirchliche Würdenträger, um nur ein paar wenige zu nennen.

Aber die Passionsspiele sind weit mehr. Ihre fast vierhundertjährige Tradition geht auf ein Gelübde zurück, das die Bürger des Ortes im Jahre 1633 gaben: Wenn Gott das Sterben durch die Pest beenden würde, wollten sie alle zehn Jahre die Passionsgeschichte darbieten. Im Jahr darauf fanden die ersten Spiele statt. Der Chronik des damaligen Pfarrers Daisenberger zufolge ist seitdem in dem Ort niemand mehr an der Pest gestorben.

Diese Historie steht auch als Prolog am Anfang des Spiels. In diesem Jahr zeigen die Oberammergauer die Passion zum 42. Mal. Über 100 Aufführungen sind bis Anfang Oktober geplant. Mitspielen darf nur, wer in Oberammergau geboren wurde oder seit mindestens zwanzig Jahren dort lebt. Für Kinder gelten Sonderregeln.

Passionsspiele Oberammergau, Jesus, Vorspiel, Gelübde, Foto: Passionsspiele Oberammergau 2022/Arno Declair
Im Vorspiel des Passionsspiels wird das Oberammerauer Gelübde gezeigt, das die fast 400-jährige Tradition des Spieles begründete

Der Besucher spürt, wie die Passion die Identität des 5.000-Einwohner-Ortes prägt. Eine Ahnung wird beim Premierengottesdienst deutlich, als der Chor zum Abschluss das Lied „Heil dir“ singt, das im Spiel beim Einzug Jesu in Jerusalem erklingt. Viele stimmen ein, es scheint kaum einen Oberammergauer zu geben, der es nicht kennt.

Im Gottesdienst werden zudem Mitspieler geehrt, die zum achten, neunten oder gar zehnten Mal dabei sind. Auch Christian Stückl, der die Spiele zum vierten Mal leitet, macht insgesamt schon das achte Mal mit. Der 61-Jährige ist ansonsten Intendant am Münchener Volkstheater. Als dann im Spiel das Volk Jesus zujubelt, sind alle Generationen auf der Bühne – vom Kleinkind bis zum Greis.

Oberammergau Passionsspiele Foto: PRO/Jonathan Steinert
Im ökumenischen Gottesdienst vor der Premiere wurden die Mitwirkenden geehrt, die schon acht, neun oder zehnmal bei den Passionsspielen dabei waren

Das Passionsspiel stellt das Spektakel nicht in den Mittelpunkt – sondern Jesus. Einen Jesus, der die Heuchelei der geistlichen Würdenträger anprangert, bei denen Glaube und Handeln nicht zusammenpassen. Nach außen hin seien sie fromm, aber es fehle an Glaube, Recht und Barmherzigkeit, vor allem gegenüber den Armen im Lande.

Demgegenüber sind die Forderungen Jesu radikal: Feinde lieben, die andere Wange hinhalten – damit stößt er auch seine Jünger vor den Kopf. Die erwarten von ihm, dass er Ungerechtigkeit und Unterdrückung beseitigt und vor allem die Römer aus dem Land wirft. Aber das ist nicht das, was Jesus will.

Streit um Jesus in Oberammergau

Wer ist Jesus? Welchen Anspruch hat er? Was heißt es, Gott zu dienen? Diese Fragen sind – bis heute – zentral und das Passionsspiel gibt ihnen in teilweise aufgeheizten Wortwechseln und Dialogen viel Raum. Jesus, gespielt von Frederik Mayet, kommt dabei nicht unbedingt sympathisch rüber. Seine Auseinandersetzungen mit den Priestern führt er erregt, seine Worte haben oft einen mahnenden Tonfall. Aber gerade das macht seine Figur so spannend und so aktuell: An Jesus scheiden sich die Geister – sowohl die seiner Jünger als auch die der Priester.

Sehr klug stellt das Spiel einen Streit der Jünger über Jesu Forderungen aus der Bergpredigt dar. Ebenfalls spannend die Auseinandersetzung im Hohen Rat, wie mit Jesus zu verfahren sei. Während Nikodemus, Simon von Bethanien und vor allem Joseph von Arimathäa vehement dafür eintreten, dass Jesus mit seinen Worten und Taten Gott dient, argumentiert die Mehrheit der Priester, dass Jesus eine Gefahr für die jüdische Tradition und die Ruhe im Land sei.

Gleichzeitig wird deutlich, dass auch der Hohepriester unter Druck steht: Denn sollte Jesus eine Revolution anzetteln und sich zum König machen, könnten die Römer die Juden umso stärker an die Kandare nehmen und Jerusalem platt machen. Eindrücklich auch, wie sowohl die Anhänger Jesu als auch die Priester das Volk auf ihre Seite ziehen wollen. Jesus als Streitobjekt, um das sich alles dreht.

Und gleichzeitig entwickelt sich auf der Bühne eine Dynamik, an der schnell klar wird, wie sich in einer Masse Emotionen hochschaukeln können: „Er sterbe“, dröhnen die einen, „Er ist ohne Schuld“ die anderen – und wenn nicht die römischen Soldaten dazwischen gegangen wären, hätte es womöglich eine Schlägerei gegeben.

Eine besondere Rolle kommt Judas in dem Stück zu. Er ist ein glühender Anhänger von Jesus, mit hohen Erwartungen an ihn, den er als Messias bekennt. Doch in seinen Augen greift Jesus nicht genug durch. Mit den Aussagen der Bergpredigt kann Judas wenig anfangen. „Ich werde meinen Nächsten lieben. Aber mit gleicher Inbrunst werde ich die Römer hassen … Meinen Zorn lasse ich mir nicht nehmen.“

Sein Verrat fußt letztlich darauf, dass er einer Finte des Hohenpriesters aufgesessen ist. Der hatte vorgegeben, Jesus in einem vertraulichen Gespräch besser kennenlernen zu wollen. Entsprechend schmerzhaft ist dann Judas’ Erkenntnis, dass er seinen verehrten Rabbi ans Kreuz geliefert hatte.

Ein sehens- und hörenswertes Kunstwerk

Der Text des Spiels greift über weite Strecken Bibelzitate auf. Allerdings teilweise von anderen Figuren geäußert als in der biblischen Vorlage. Das sorgt immer wieder für Aha-Momente. Zwischen den einzelnen Abschnitten des Spieles tritt ein Chor auf die Bühne. Klangvoll und mitreißend unterstützt von einem Orchester kommentiert und deutet er das Geschehen.

Diese Elemente erinnern an klassische, geistliche Oratorien. Die Komposition stammt von dem Oberammergauer Lehrer Rochus Dedler, der die Musik für die Spiele 1811, 1815 und 1820 schrieb. Seitdem wurde sie im Laufe der Jahre verändert und erweitert.

Der Chor präsentiert bei seinen Auftritten Szenen aus dem Alten Testament, die auf der Bühne als „lebende Bilder“ dargestellt werden und eine inhaltliche Parallele zur Passion ziehen. Die Anbetung des Goldenen Kalbes eröffnet etwa die Szene, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt. Daniel in der Löwengrube und die Verspottung Hiobs stehen vor dem Verhör Jesu.

Diese Bezüge geben der Geschichte als zusätzliche Sinnebene noch einmal eine besondere Tiefe. Daher ist es schade, dass der Text der Lieder ohne Textbuch schwer verständlich ist. Aber die Musik tut auch so ihre Wirkung, geht zu Herzen und unterstreicht ausdrucksstark das Gesehene.

Daniel in der Löwengrube, Passionsspiele Oberammergau, Lebendes Bild Foto: Passionsspiele Oberammergau 2022/Birgit Gudjonsdottir
Das lebende Bild stellt Daniel in der Löwengrube dar

Die ganze Inszenierung auf der Bühne ist ein sehenswertes Kunstwerk: wie die Personen den Raum in seiner Tiefe und Breite füllen, woher sie auf die Bühne kommen, wo sie entlanggehen; die aufs Wesentliche reduzierte Requisite, die durchdachten Kostüme. Und natürlich die Darbietung selbst: Die Schauspieler, allesamt Laiendarsteller, verkörpern ihre Rollen sehr überzeugend. Und bringen viel rüber!

Das Stück endet am Ostermorgen. Es ist nur eine kurze Szene am leeren Grab und erscheint eher wie ein Epilog. Doch sie mündet in ein fulminantes Gotteslob. Zuvor formuliert Magdalena ein bewegendes Bekenntnis zum Auferstandenen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, sagt sie mit Worten von Hiob gleich zweimal. „Er war verachtet, von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und ihn auferweckt. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Er ist bei uns alle Tage bis an der Welt Ende!“

„Amen“, möchte man dazu nur noch sagen.

Passionsspiele Oberammergau, Jesus, Kreuz, Schlussbild Foto: Passionsspiele Oberammergau 2022/Arno Declair
Das Schlussbild des Passionsspiels: Die Anhänger Jesu vor dem leeren Kreuz. Magdalena (Sophie Schuster) bekennt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“
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