Cloppenburg ist ein beschauliches Örtchen in Niedersachen. Etwa ein Fünftel der gut 30.000 Einwohner hier sind Russlanddeutsche, die allermeisten davon tief gläubig und in der örtlichen Pfingstgemeinde aktiv. Der Dokumentarfilm „Gottesfürchtig und kinderreich“ des NDR dokumentiert das Leben verschiedener Persönlichkeiten der Gemeinde.
Im Gemeindeleben treffen Religion, Kultur und Gesellschaft auf vielfältige Weise aufeinander, mal produktiv, mal konfliktreich. Die Bedeutung von Heimat wird ebenso verhandelt wie die Spannungen, die sich aus weltanschaulichen Unterschieden zwischen den Gemeindemitgliedern und ihrem säkularen Umfeld erleben. Der Streifen will vieles – doch bei nur 30 Minuten Laufzeit bleibt die Tiefe leider ein wenig auf der Strecke.
Nur sehr selten wirken die Gläubigen wie weltfremde Fundamentalisten – meistens in den Aussagen säkularer Interviewpartner. Provoziert werden solche Vergleiche nie. Das muss man dem Film zugute halten. Wenn ein Jugendlicher etwa die Bibel zitiert, um zu erklären, wieso er keinen Alkohol trinkt, lässt die Interviewerin ihn nicht auflaufen und drängt ihn nicht in eine Diskussion.
Spannende Einblicke bleiben unerklärt
Der Film folgt diversen Handlungssträngen rund um das Leben der russlanddeutschen Cloppenburger. Da geht es einmal um eine Hochzeit eines sehr jungen Paares in der Gemeinde, einmal um den Kinderreichtum der Familie Fischer – Familienvater Ernst ist Pastor der Kirche –, oder um das Verhältnis der russlanddeutschen Jugendlichen zu ihren Mitschülern. Auch der Bau eines neuen Gemeindehauses wird thematisiert, oder der Besuch einer Familie in ihrem sibirischen Heimatdorf.
Das ist spannend inszeniert und wirft interessante Fragen auf – auf die allerdings aufgrund der Themenfülle nur selten erschöpfende Antworten folgen. Stets wird gezeigt, was die Russlanddeutschen glauben, was sie ausmacht. Das „Warum“ bleibt allerdings oft auf der Strecke.
Ein Beispiel ist der Kinderreichtum der Familien. Die Fischers etwa haben 12 Sprösslinge, auch die neu vermählte 18-Jährige wird bald nach der Hochzeit schwanger. Sogleich gibt sie ihren Job als Zahnarzthelferin auf, um sich um den Nachwuchs zu kümmern. Gefragt, warum sie das macht, gibt sie an, sie habe ihren Beruf zwar gern gemacht, habe nun aber vor Gott eine andere Verantwortung, und zwar für ihr Kind. Doch anstatt zu fragen, warum sie das glaubt, will die Interviewerin wissen: „Und wenn es nun zehn oder zwölf werden?“ Der Bräutigam lacht nervös und sagt: „Dann werden es eben zehn oder zwölf“. Solche Wortwechsel wirken sympathisch und machen die Russlanddeutschen nahbar. Aber warum die Familie für sie über allem steht, werden sie nicht gefragt. So, als wüssten sie dazu nichts zu sagen. So bleibt doch ein schaler Beigeschmack, als wolle man die Christen ausstellen wie Kuriositäten, sie und ihre Ideale aber nicht wirklich verstehen.
Mehr Vermittlung wäre wünschenswert
Ähnlich läuft es beim Bau des neuen Gotteshauses. Die Männer der Gemeinde werden gezeigt, wie sie eifrig werkeln – teilweise stundenlang, auch nach dem Schichtdienst in ihrem regulären Job. Die Frauen versorgen die Arbeiter mit allerhand Köstlichkeiten. Hier kommt eine Art Gefühl von drolliger, konservativer Heimeligkeit auf, die nicht so richtig ernst zu nehmen ist. Gefragt, warum sie das machen, können die Männer nur Antworten geben, die für sie selbstverständlich sind. „Das ist ein Dienst an der Gemeinde“, sagt einer. „Alles für den Herrn“, ein anderer.
Aus christlicher Perspektive ist das bewundernswert. Es fragt sich aber, ob ein säkularer Zuschauer mit diesen Äußerungen etwas anfangen kann. Die Welten zu verbinden – sozusagen zu dolmetschen –, wäre hier eigentlich die Aufgabe der Filmemacher. Doch das geschieht nicht wirklich.
Ungewollte Machtgefälle
Am meisten wirkt es so in den Abschnitten, die sich mit dem Schulalltag des russlanddeutschen Nachwuchses beschäftigen. Da wird darauf eingegangen, dass die Jugendlichen eben am Wochenende nicht stark alkoholisiert durch die Discos ziehen, keinen Sex vor der Ehe haben wollen, keine Fernseher zu Hause haben, um die Bundesliga zu verfolgen. Ja, das ist anders als bei anderen Jugendlichen – auch irritierend, wie manche Mitschüler zugeben. Der Film erkennt das an. Er lässt die russlanddeutschen Mitschüler zu Wort kommen, lässt sie selbst Gründe finden. „In der Bibel steht, dass man sich nicht besaufen soll“, etwa, oder „vom Fernsehen kriegt man schlechte Augen“.
Doch dann spricht die Lehrerin. Sie vermutet, dass die Gründe der Jugendlichen nur Ausreden sind, um nicht Dingen nachtrauern zu müssen, die sie eigentlich auch gern hätten. Wieder entsteht unwillkürlich ein Machtgefälle: Die aufgeklärten Säkularen hier, die drolligen Gläubigen da. Bösartig ist das nicht – aber unglücklich.
Ein starker Gegenpol wäre nötig gewesen
Auch Pastor Fischer, der am häufigsten im Vordergrund steht, kann dem Film nicht den argumentativ sicheren russlanddeutschen Gegenpart zu solchen Vorstellungen geben, den er bräuchte, um tatsächlich nicht nur an der Oberfläche zu kratzen. Gefragt, warum er seine Kinder nur selten fernsehen lässt, spricht er vom moralischen Verfall in den Medien, wirkt dabei aber unsicher.
Irgendwann folgt auch die Frage, die man als Zuschauer bereits erwartet hatte. Was er tun würde, wenn es ein homosexuelles Paar in seiner Gemeinde gäbe? „Das weiß ich nicht“, antwortet er. „Das ist zum Glück noch nie passiert.“ Dass Fischer gegen Homosexualität ist, wird klar; warum, das bleibt – außer der Angabe „die Bibel ist da deutlich“ – offen. Das „Warum“ wäre aber wichtig gewesen für einen fairen Dialog. Man kann Fischer unterstellen, dass er es nicht weiß – oder dem Film, dass er nicht entschieden genug fragt. Das ist letztlich dem Zuschauer überlassen.
Spannende Frage nach der Heimat
Für ersteres spricht allerdings, dass der Film an ausgewählten Stellen dennoch in die Tiefe geht. So vor allem bei der Reise der russlanddeutschen Familie in ihr sibirisches Heimatdorf. Die Familie wanderte 1995 aus, als der eiserne Vorhang gefallen war und sie ihren Glauben in Russland endlich wieder offen leben durfte. Aus Angst, dies könne nicht so bleiben, ging sie nach Deutschland, solange der Weg noch frei war.
Da werden Gespräche mit alten Freunden gezeigt, da wird das Aufeinandertreffen der Kulturen illustriert – die Verunsicherung etwa ist dem in Deutschland geborenen jugendlichen Sohn der Auswandererfamilie anzumerken. Da wird die Frage nach dem Sinn von Heimat gestellt. Und da wird endlich auch einmal eine positive, bedenkenswerte Antwort gegeben. „Ich bin ein reicher Mensch“, sagt eine Russlanddeutsche. „Ich habe zwei Heimaten.“
Hier wird also gezeigt, dass sich eine Frau Gedanken gemacht und sich in ihrem russlanddeutschen Hintergrund orientiert hat. Hier wird der Perspektive dieser Menschen einmal Raum gegeben. Die Frau kann so einen starken Gegenpol zur Außenwahrnehmung bilden und ihre russlanddeutsche Identität nach außen vertreten. Einige mehr von diesen Momenten hätten dem Film sehr gut getan. Doch dafür ist er zu kurz. So bleibt unter dem Strich ein Streifen, der auf lobenswerte Weise um Fairness bemüht ist, bezeiten aber doch herablassend wirkt. Für einen ersten Einblick in die russlanddeutsche Welt ist er auf jeden Fall empfehlenswert. Wer tiefer in die Thematik einsteigen will, sollte hier allerdings nicht stehen bleiben.
„Gottesfürchtig und kinderreich“ wird am 20.07.2018 um 20:45 Uhr auf tagesschau24 ausgestrahlt.