Trotz sinkender Mitgliederzahlen zeigt sich der Münchner Soziologe Armin Nassehi erstaunt über die immer noch große Bindekraft der evangelischen und der katholischen Kirche. „In Westdeutschland sind immer noch ungefähr 60 Prozent der Menschen Mitglied einer der beiden großen Kirchen“, sagte Nassehi am Donnerstag im Deutschlandfunk. Dies sei deutlich mehr als etwa der Wählerzuspruch für Union und SPD, der zusammen auf deutlich unter 50 Prozent gesunken sei. Dabei liefen beide Entwicklungen seit Jahren in etwa parallel. „Man müsste sich eigentlich wundern, warum noch so viele Mitglied in der Kirche bleiben“, sagte der Soziologe.
Ausschlaggebend hierfür seien wahrscheinlich nicht Bekenntnisfragen oder Lehrinhalte, sondern eine eingeübte gesellschaftliche Praxis, sagte Nassehi. Insofern sei die Haltung von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zur Kirche nicht untypisch. Sie sei zwar „nicht ganz gläubig“, hatte Baerbock im Jahr 2021 zu ihrer evangelischen Kirchenmitgliedschaft erklärt. In die Kirche gehe sie aber trotzdem, weil ihr Werte wie Gemeinschaft, Nächstenliebe und Verantwortung wichtig seien. Dieses „Baerbock-Christentum“ sei unter Kirchenmitgliedern sehr verbreitet, sagte Nassehi.
Funktion: „General-Inklusion“
Der Trend sinkender Mitgliederzahlen werde sich dennoch fortsetzen, betonte der Soziologe und verwies auf den Traditionsabbruch: Die „generationelle Weitergabe“ sei unterbrochen, weil „immer weniger Eltern kirchliche Praxis kennen“. Dagegen seien die Menschen früher wie selbstverständlich durch Taufe und Erziehung Kirchenmitglied geworden. „Selbst die Kritiker der Kirche waren innerhalb der Kirche.“
Soziologisch betrachtet seien die großen Kirchen „Institution der General-Inklusion, wo jeder und jede prinzipiell drin sein kann“. In einer sich immer weiter pluralisierenden Gesellschaft hätten es solche Institutionen jedoch schwer, sich zu halten. Auf Religiosität werde die Gesellschaft dennoch nicht verzichten können. Noch sei der Soziologie keine Gesellschaft bekannt, weder historisch noch gegenwärtig, die ganz auf religiöse Kommunikation verzichtet habe. „Vielleicht ist das der Ansatzpunkt, an dem man auch über den Wandel des Kirchlichen nachdenken muss“, sagte Nassehi.
2 Antworten
>>zwar „nicht ganz gläubig“, … aber trotzdem Werte wie Gemeinschaft, Nächstenliebe und Verantwortung wichtig<< ?
Da hegt man vermutlich die Illusion, dass diese Werte "von selbst einfach da" sind?
Dabei zeigt doch die "zeitgemäße" De-Konstruktion von Ehe &Familie bis hin zu Menschenrechten (Recht auf Leben), dass diese Werte unglaublich schnell verdampfen, wenn erst das gemeinsame christliche Weltbild entsorgt wurde.
Tatsächlich wurden Menschenrechte erst in einem mühsamen und langwierigen Prozess errungen – weil sich Christen dafür eingesetzt, ja aufgeopfert haben (William Wilberforce, Mutter Theresa, Dietrich Bonhoeffer, …).
Sie haben recht, das müssen wir uns mehr vor Augen führen. Aber viele sind tatsächlich der Meinung, der Mensch sei von Grund auf gut. In meiner Kindheit und Jugend gab es mehr Sicherheit, weshalb man auch viel mehr Freiheit genießen konnte. Selbst unsere Wohnungstür hatten wir nur abends abgeschlossen,trotz Goßstadt. Später gab es Schnappschlösser.