Ungerechtigkeit“, bricht es aus Nathalie Schaller heraus auf die Frage, was sie wütend macht. „Unser Lebensstandard hier ist nur möglich, weil es anderen Menschen auf der Welt schlecht geht. Das ist nicht fair.“ Die 37-Jährige sitzt in der Wohnküche des Modeunternehmens [eyd]. Die Einrichtung ist schlicht, in vielen Räumen stehen Schaufensterpuppen mit Kleidung. Das Atelier ist gefüllt mit Ständern von Schnittmustern und Entwürfen. Hier entstehen die Ideen für die Hosen, Oberteile oder Kleider von [eyd]. Dieser Name ist die Lautschrift des englischen „aid“ –„Hilfe“. Die Buchstaben des Labels stehen außerdem für „Empower your Dressmaker“, zu Deutsch soviel wie: „Stärke und ermutige die, die deine Kleidung machen.“
Gerechtigkeit ist das Herzensthema von Schaller. Sie lässt alle Kleidung in dem Sozialunternehmen „Chaiim humanitarian Clothing“ in Mumbai, Indien, produzieren. Etwa 20 Frauen arbeiten dort aktuell als Näherinnen. Sie waren betroffen von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Chaiim bietet ihnen eine feste Anstellung, ein geschütztes Arbeitsumfeld und faire Löhne, sodass sie nicht nur gut davon leben, sondern auch noch etwas für die Zukunft ansparen können. Die Frauen bekommen Hilfe zur Selbsthilfe, Seelsorge und Unterricht in alltäglichen Dingen, wie zum Beispiel dem Umgang mit Finanzen. Dinge, mit denen sie zuvor noch nie in Berührung gekommen sind, weil sie oft seit dem Kindesalter als Zwangsprostituierte missbraucht wurden.
Auch [eyd] selbst ist ein sogenanntes „Social Business“. Oberstes Ziel ist nicht der finanzielle Gewinn, sondern das Erfüllen einer bestimmten gesellschaftlichen oder ökologischen Aufgabe. Im Fall von [eyd] ist das der Einsatz gegen Menschenhandel. Durch die Zusammenarbeit von Schallers Unternehmen mit Chaiim konnten sich seit 2013 mehr als zwei Dutzend der Frauen in Indien eine eigene Existenz aufbauen. Durch die Aufträge aus Stuttgart konnte Chaiim seine Textilproduktion erst richtig ausbauen. Auch andere Auftraggeber nutzen den Partner in Indien, um faire Textilien zu produzieren.
Schallers Weg zum Erfolg war jedoch nicht leicht. Viel Mut und Durchhaltevermögen musste sie beweisen. „Mein Vater sagt immer noch, dass er nie gedacht hätte, dass es funktionieren kann, faire Mode in Indien zu produzieren“, sagt die zierliche Frau. Lachfältchen säumen ihre Augen. Natürlich trägt sie ihre Mode selbst, heute zum Beispiel ein schwarz gemustertes Oversize-Kleid. Die Mode von [eyd] zeigt, dass fair nicht „öko“ aussehen muss. Die Damen- und Herrenkleidung orientiert sich an aktuellen Trends, die Schnitte sind schlicht, die Stoffe für Damenkleider oder -oberteile oft fließend. Die Sommerkollektion ist fröhlich bunt und indisch inspiriert mit Farbtönen wie „lapisblau“ oder „grapefruit“.
Wendepunkt in Kambodscha
Eigentlich sollte Schaller Juristin werden, später die Anwaltskanzlei des Vaters übernehmen. Sie beugte sich dem Wunsch der Eltern, Jura zu studieren. Aber eher aus Angst, den falschen Weg einzuschlagen. Sie zog es durch, absolvierte beide Staatsexamina, obwohl sie nie mit dem Herzen dabei war. „Mir ging es immer schon um die Menschen, nicht um die rechtliche Komponente.“
Ein Einsatz mit der chritstlichen Organisation „Jugend mit einer Mission“, die sich weltweit in sozialen Brennpunkten engagiert, stellte Schallers Leben auf den Kopf. Er führte sie nach Kambodscha, wo sie zum ersten Mal mit „Sex Trafficking“ konfrontiert wurde: moderner Sklaverei, Menschenhandel und sexueller Ausbeutung. Das Team besuchte Schutzhäuser für Frauen, die aus Zwangsprostitution gerettet wurden. Als Beschäftigungstherapie bastelten sie Postkarten. Schaller dachte sich: „Das hilft nicht nachhaltig. Und außerdem sind die Karten nicht mal schön.“ Auf einmal wusste sie: „Solchen Frauen möchte ich helfen.“ Nach Deutschland kam sie in den Augen ihrer Eltern mit einer fixen Idee zurück: der Vision für ein Sozialunternehmen. Faire Mode lag nahe. Seit sie als junge Frau in Dokus sah, zu welchen Bedingungen in der Textilbranche produziert wird, konnte sie nicht mehr guten Gewissens in Fast-Fashion-Läden wie H&M einkaufen. „Ich habe so ein Gerechtigkeitsempfinden, das kriege ich dann nicht mehr aus meinem Kopf raus“, sagt sie.
Unternehmertum mit Hindernissen
Das war 2008. Der Weg zu [eyd] war noch lang. Er führte über das Mode-Start-up Glimpse, das Schaller mit ihrem Mann Simon und einer Designerin gründete. Nach mehreren Jahren löste es sich auf. Ein Neustart folgte 2017 mit dem heutigen Label [eyd]. Fünf Angestellte beschäftigt es aktuell plus einige Praktikanten. Schaller ist Geschäftsführerin. Die Mode entwickelt und designt eine ihrer Mitarbeiterinnen. Die Anfänge ihres Unternehmertums seien zwar nicht immer leicht gewesen. Nicht nur einmal klafften deutsche Idealvorstellungen und die Bedingungen in Indien auseinander. Aber das „Warum“ ließ Schaller immer weitermachen. Es sei bewegend zu sehen, was die Arbeit für die Frauen in Indien bedeute. Schallers Augen leuchten, wenn sie davon spricht. Ein Wunder für die 37-Jährige ist auch die heutige Beziehung zu ihren Eltern. „Sie haben sich von den größten Gegnern zu den größten Unterstützern entwickelt.“
Die Geschichte ihres Modelabels hat Nathalie Schaller aufgeschrieben im Buch „Der Stoff, aus dem die Freiheit ist“ (adeo, 208 Seiten, 15,99 Euro, ISBN 9783863348373)
Die Corona-Krise schüttelte [eyd] heftig durch. Seit anderthalb Jahren betreibe sie Krisenmanagement, sagt Schaller. Lieferungen verzögern sich, die Produktion ist eingeschränkt. Aufgeben ist für sie aber keine Option. Am Rande des Schwarzwaldes hat das Unternehmen eine kleine sozial engagierte Fabrik hinzugewinnen können. Bald soll auch in Deutschland produziert werden. Kraft zum Durchhalten gibt der zweifachen Mutter ihr Glaube. „Ich weiß, dass ich nicht alles allein bewältigen muss.“
Ihren Einsatz und die Extrameile, die man als soziales Unternehmen gehen müsse, um authentisch zu sein, wie zum Beispiel die Wahl einer ethischen Bank oder die schwierigere Preisgestaltung, damit die Löhne fair bleiben, hat Schaller nie bereut. Ein Oberteil kostet ab 40 Euro, eine Hose ab 90 Euro. Sie wünscht sich mehr Einsatz für fairen Handel und Menschenrechte in der Gesellschaft. „Man kann es nicht ausblenden“, findet sie. Auch wenn man nicht alles richtig machen könne, sei es wichtig, „sich auf die Reise zu machen“.
Dieser Artikel erschien zuerst in „PRO – das christliche Medienmagazin“. Bestellen Sie die aktuelle Ausgabe hier.