Mit Tofu gegen „pseudochristliches Sündenkonto“

Den Begriff Sünde gibt es heute immer noch – allerdings taucht er als schlechtes Gewissen beim Raubbau an der Natur wieder auf. Der Autor Ulrich Greiner vergleicht in einem Kommentar in der Wochenzeitung Die Zeit den christlichen Begriff mit dessen moderner Version. Der Hauptschuldige: der weiße alte Mann.
Von Jörn Schumacher
Gesunde Ernährung und der Verzehr von Salat, Gemüse und Tofu bekämen eine moralische Dimension, schreibt der Zeit-Autor Ulrich Greiner

„So gering die Rolle der Erbsünde im heutigen Christentum auch ist, so sehr taucht sie an unerwarteter Stelle und in veränderter Form wieder auf“, schreibt Greiner, der von 1986 bis 1995 Feuilletonchef der Zeit, und von 1998 bis 2009 verantwortlicher Redakteur des Ressorts Literatur war. Auch wenn es manchmal den Anschein habe, dass das Abendland mit dem Christlichen nichts mehr am Hut habe, so seien religiöse Vorstellungen nach wie vor wirksam, schreibt Greiner.

„Schuld und Sühne, Sünde und Erlösung, Rechtfertigung und Verzeihung – diese christlichen Kategorien bestimmen nicht dem Wort, aber der Sache nach die zeitgenössische Moral noch immer“, so der Journalist und Literaturkritiker. Allerdings sei ihnen der Gottesbezug abhandengekommen, und damit fehle ihnen die letzte Begründung.

Der Begriff Sünde etwa stehe vor allem für eine Schuld, die „wir durch tätige Reue tilgen müssen“, und wirke so bis hinein in die politische Sphäre. Für die Verzeihung sei jedoch nicht mehr Gott zuständig, sondern die Menschheit. „Erlösung können wir nicht mehr von einem Jenseits erhoffen, sondern allein von einer diesseitigen Rechtfertigung (…).“ Während Luther bezweifelte, dass die Rechtfertigung durch gute Taten gelingen könnte, stehe der Mensch heute mit seinem „ökologischen Fußabdruck“ in der Schuld der Menschheit. Damit werde die Natur zum Ort des Heils.

Schuld ist „der weiße alte Mann“

Die Natur werde heutzutage als eine Art Gottheit verehrt, die gnädig gestimmt werden muss. Und sie verlange Askese – ähnlich wie bei den Religionen. Gesunde Ernährung und der Verzehr von Salat, Gemüse und Tofu bekämen somit eine moralische Dimension. „Es entsteht so etwas wie ein pseudochristliches Sündenkonto. Wie einst der Christ seinem Gewissen gegenüber verantwortlich war und auf Gottes Gnade hoffte, so ist der Pseudochrist einem Weltgewissen gegenüber verantwortlich, das keine Gnade kennt.“

Ebenso werde der Kolonialismus mit einem Schuldvorwurf verbunden, der dazu führt, dass „alle Flüchtlinge in einem Akt der Wiedergutmachung willkommen“ geheißen werden sollten – „als ob die Urenkel oder Ururenkel eine Schuld geerbt hätten, die kaum jemals zu tilgen wäre“. Greiner ergänzt: „Wir stoßen hier auf den Begriff der Erbsünde.“

Paulus hingegen verbinde den Gedanken der Ursünde mit der Erlösung durch den Kreuzestod, schreibt Greiner. „Diejenigen, die heute von der Apokalypse reden und damit vornehmlich die Klimakatastrophe meinen (vor nicht allzu langer Zeit war es noch der Atomtod), wissen zumeist nicht, dass apokalypsis, ‚Enthüllung, Offenbarung‘ bedeutet und die endzeitliche Vision der Wiederkunft Gottes schildert.“

Im Zentrum des Verdachsts stehe dabei „der Mann, der weiße Mann, der weiße alte Mann“: „Er verursacht die Klimakatastrophe, betreibt den Raubbau an der Natur, er ist verantwortlich für Rassismus, Sexismus, Kolonialismus und all die anderen schrecklichen Ismen. Das Tribunal, das überall errichtet wird, kennt natürlich auch kleinere, von Fall zu Fall wechselnde Übeltäter: den Dieselfahrer, den Raucher, den Fleischfresser, den Islamkritiker.“

Von: Jörn Schumacher

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