Gott wird Mensch. Mehr als diese drei Worte braucht die Weihnachtsbotschaft erst einmal nicht. Und umreißt doch alles, was dieses revolutionäre Geschehen ausmacht: das Hohe und das Niedrige, die Fülle und die Begrenztheit, das Himmlische und das Irdische – und auch die Frage danach, was es mit dem Göttlichen in einem Menschenleben auf sich haben kann.
Das ist nachzulesen im biblischen Bericht von Jesu Geburt und in den Worten der alttestamentarischen Propheten. Dem ist nachzuspüren auch und besonders in der Musik von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Der barocke Meister gibt der zarten Wucht des weihnachtlichen Wunders in seinen Werken einen Mehrwert, dem selbst die inflationäre Verkitschung des Christfests nichts anhaben kann.
Als Bach mit Frau und Kindern sein erstes Weihnachten im Amt als Thomaskantor feierte, waren die Wochen des Advents eine stille, zur Besinnung führende Zeit. Selbst in den Kirchen wurde nicht musiziert. Das verschaffte dem Komponisten vermutlich auch ein wenig Luft, hatte er doch seit seinem Amtsantritt in Leipzig am 30. Mai 1723 Sonntag für Sonntag eine, in der Regel, neue Kantate aufführen lassen.
Diesem ersten Leipziger Kantatenjahrgang geht die Internationale Bachakademie Stuttgart mit ihrem ambitionierten Projekt „Vision.Bach – Mit Bach das Leben begreifen“ nach. Die Gaechinger Cantorey lässt unter Leitung von Hans-Christoph Rademann binnen zwölf Monaten sämtliche dieser rund 60 Kantaten hören: in Kirchen und Konzertsälen und in einer groß angelegten CD-Produktion.
Beim Konzert am dritten Advent in der Liederhalle Stuttgart setzte das Staunen der Mutter Jesu über die für sie so „verkehrte“ Welt den thematischen Grundton: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron“ ist eine Zeile aus dem Lobgesang der Maria, nachzulesen in Lukas 1, 46–55. Johann Sebastian Bach hat dieses „Magnificat“ vertont. Er brachte das Werk am 25. Dezember 1723 in der Thomaskirche zur Uraufführung. Den lateinischen Text dieses Lobgesangs verschränkt er mit weihnachtlichen Einlagesätzen, was das festliche Gepräge umso prächtiger unterstreicht. Von seiner Struktur her folgt Bachs „Magnificat“ dem Aufbau einer Kantate. Auch deshalb passt es ins Konzept von „Vision.Bach“.
Weil zur Anlage des Projekts meist ein inhaltlicher Gedankenanstoß mit besonderer Expertise gehört, hatte die Bachakademie für das Konzert am dritten Advent einen Menschen mit Kompetenz in Sachen politischer Macht eingeladen: Winfried Kretschmann.
Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg sagte, er sehe die Hoffnung des „Magnificats“ in der demokratischen Regierungs- und auch Lebensform erfüllt. Allerdings sei die Herrschaft des Volkes über seine gewählten Repräsentanten „stetig in Gefahr“. Der Bündnis-Grüne, seit 2011 schon im Amt, verwies exemplarisch auf das Gebaren des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der ihm nicht genehme Wahlergebnisse leugne.
„Wo so etwas geschieht, droht der Thron, droht die Willkürherrschaft zurückzukehren.“ Auch deshalb bleibe die in diesem Lobgesang ausgesprochene Sehnsucht höchst aktuell. Ungeachtet des auf politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge deutbaren Textes aber sei das „Magnificat“ zuallererst ein „zutiefst religiöser Text, ein Gebet“. Es erschließe sich im Letzten „nur im Glauben“, so Kretschmann.
Für Bach gibt es nur einen „Höchsten“
Johann Sebastian Bach selbst war keiner, der auf politischen Umsturz aus gewesen wäre. „Bei ihm kommt die Obrigkeit relativ gut weg, er sieht sie ja als von Gottes Gnaden eingesetzt“, sagt Hans-Christoph Rademann, der Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart, im Interview. Allerdings sei das Koordinatensystem des barocken Meisters klar: „Es gibt für ihn nur den einen Höchsten.“ Nahezu sprichwörtlich ist das „S. D. G.“ geworden, das (nicht nur, aber vor allem) Bach an den Fuß seiner Partituren setzte.
„Soli Deo Gloria“, Gott allein die Ehre, das markiert auch die große Botschaft des marianischen Lobgesangs, den die Gaechinger Cantorey so eindrucksvoll interpretierte. Es war ein großes Ganzes, das Chor und Orchester hier schufen, denn im Verbund mit den uralten Worten stellte sich zugleich die Erzählung dessen ein, was sich im „Magnificat“ manifestiert: dass eine Jungfrau „vom Himmel hoch“ auserkoren wird, den Erlöser zu gebären. Gott wird Mensch. Und das macht was mit Menschen: tröstet, verändert, rettet.
Das demokratische Prinzip, das Winfried Kretschmann im „Magnificat“ wahrgenommen hat, spiegelt sich im Aufführungsprinzip der Gaechinger Cantorey: Für die Solopartien treten die einzelnen Sängerinnen und Sänger aus dem Chor heraus, sind Gleiche unter Gleichen. Im Verbund mit Bachs Kunst, Frauen- und Männerstimmen mit den instrumentalen Klängen aufs Köstlichste miteinander zu verweben, formt sich ein musikalisch-theatrales Bild aus einem Guss und von hoher Intensität.
Prächtige Chöre, Pauken und Trompeten
Und das fasst an, es ergreift. Vor allem dort, wo die Passagen in ihrer vermeintlichen Schlichtheit so berückend dicht werden. In der Kantate zum 1. Advent BWV 61 „Nun komm der Heiden Heiland“ (diese hatte Bach schon aus Weimar im Gepäck) ist das etwa so im Rezitativ „Siehe, ich stehe vor der Tür“, wo die Christus-Worte des Bass-Solisten Tobias Berndt vom Pizzicato aus dem Barockorchester warm, aber deutlich unterstrichen werden und in der Sopran-Arie von Catalina Bertucci zart und innig Antwort finden.
Auch in der Kantate zum ersten Weihnachtstag BWV 63 „Christen ätzet diesen Tag“ gibt es diese aufrüttelnd intensiven Momente: allen voran im Rezitativ „O selger Tag“, wo Oboist Andreas Helm die Altistin Marie Henriette Reinhold viel mehr als „nur“ akkompagniert – hier singt und klingt und schwingt es im Miteinander. Die prächtigen Chöre, intonatorisch und dynamisch immer auf dem Punkt und nun auch mit Pauken und Trompeten, legen sich wie ein goldener Rahmen um die solistischen Perlen.
Die finden sich auch im „Magnificat in Es“, wo Alt und Tenor (Julian Habermann) in der Arie „Et misericordia“ wunderbar im Duett harmonieren. Wie eine Meditation über den Begriff „Barmherzigkeit“ wirkt das Terzett „Suscepit Israel“, bei dem sich zu Alt und ersten Sopran mit Anja Scherg ein zweiter Sopran gesellt. Seelenbalsam pur ist die Arie „Esurientes implevit bonis“ mit Flötenbegleitung. Wer seinen Geist entschlacken will, ist bei dieser Musik am richtigen Ort.
All das hält mit Hans-Christoph Rademann ein ungemein involvierter Dirigent zusammen. Der sich selbst stets aufs Neue überraschen und auch packen lässt von der theologischen wie emotionalen Tiefe des Bach’schen Œvres. Es ist ihm Anliegen, die Kunst des Komponisten aufzuspüren und sichtbar zu machen.
Und: Er möchte mit diesem außerordentlichen Projekt nachweisen, dass die Themen dieser Kantaten aus dem ersten Leipziger Jahr universal bedeutsam sind. Diese Relevanz verortet sich im programmatischen Zusammenhang. Das ist auch beim zweiten Weihnachtskonzert der Gaechinger Cantorey am 29. Dezember 2023 so: „Sehet, welch eine Liebe“, der Titel der ersten dort aufzuführenden Kantate BWV 64, steht als Motto über dem Abend in der Stiftskirche von Herrenberg. Als Impulsgeber ist Wolfgang Bartole geladen, Vorstand beim Albert-Schweitzer-Kinderdorf Waldenburg. Es geht um Kinder: Gotteskinder, Menschenkinder, Annahme, Aufnahme. Gott wird Kind. Himmel auf Erden.
Über „Vision.Bach“
Im Mittelpunkt der Saison 2023/24 der Internationalen Bachakademie Stuttgart steht das erste Leipziger Amtsjahr Johann Sebastian Bachs. Der neue Thomaskantor stürzte sich ab dem 20. Mai 1723 auf die Komposition und Aufführung neuer Kantaten: Über sechzig Stücke dieser Art bekamen die Leipziger Gottesdienstbesucher bis zum Sonntag nach Pfingsten 1724 zu hören. 300 Jahre lässt später die Gaechinger Cantorey unter Leitung von Hans-Christoph Rademann alle diese Kantaten in 23 Konzerten in Stuttgart und Umgebung erklingen. Der Konzertreigen von „Vision.Bach – Mit Bach das Leben begreifen“ schließt am 31. Mai 2024. Internet: www.bachakademie.de.
Von: Claudia Irle-Utsch