Die Scharia kann unterschiedlich ausgelegt werden: „Die Bandbreite der Interpretationen reicht von den Terroristen der Miliz Islamischer Staat (IS) auf der einen Seite bis zu einer Auslegung, die die liberalen Grundsätze unserer Verfassung, die Menschenrechte in einer noch liberaleren Form vertritt, als wir sie jetzt umsetzen“, sagt von Stosch. Der 43 Jahre alte katholische Theologieprofessor leitet das Zentrum für Komparative Theologie der Universität Paderborn und arbeitet bei seinen Projekten eng mit muslimischen Theologen zusammen. Der Frage, welche Auslegung der Scharia zutrifft, widmet sich eine wissenschaftliche Tagung am Wochenende in Paderborn. Von Stosch ist einer ihrer Initiatoren. Im dpa-Interview erklärt er, woher das düstere Bild der Scharia rührt und warum es immer wieder zu Missverständnissen in der Auslegung kommt
dpa: Was ist die Scharia?
Klaus von Stosch: In der Ursprungsbedeutung ist die Scharia der „Weg zur Quelle“, der „Weg zu Gott“. Zugleich ist Scharia der Begriff, der die islamische Rechts- und Normenlehre beschreibt und deren Methodologie.Ist die Scharia also ein umfassendes Gesetzbuch?
Die Scharia ist überhaupt nicht vergleichbar mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch in Deutschland. Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass die Scharia ein festgelegtes, kodifiziertes Recht sei. Es gibt sehr unterschiedliche Auslegungen der Scharia.Worauf beruht die Scharia?
Die erste Quelle für die Scharia ist der Koran. Da stellt sich sofort die Frage: Liest man den Koran in seinem historischen Zusammenhang oder versteht man ihn als zeit- und geschichtslose Wahrheit?Zum Beispiel?
Ein Beispiel aus dem Erbrecht: Der Koran legt nahe, dass Frauen nur halb so viel erben sollen wie Männer. Liest man das als übergeschichtlichen Grundsatz, dann ist das natürlich eine Diskriminierung der Frauen und ließe Folgerungen zu, dass etwa Gott Männer wichtiger findet als Frauen. Liest man das aber historisch, also vor dem Hintergrund, dass Frauen im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel überhaupt nichts geerbt haben, dann ist es ein revolutionärer Schritt, den Frauen ein Erbteil zu ermöglichen.Woher kommt das düstere Bild der Scharia?
Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat beschrieben, dass wir seit dem 19. Jahrhundert eine „Islamisierung des Islam“ erleben. Im Grunde versuchen die Salafisten und die anderen Extremisten, den Islam neu zu erfinden. Alte, nie angewendete Regeln werden nun zum wesentlichen Merkmal des Islam erklärt.Zum Beispiel die Steinigung nach Ehebruch?
Viele Menschen halten das für Steinzeit-Islam, für einen Rückfall ins Mittelalter. Ein Blick auf das traditionelle Recht macht aber schnell klar, dass die Regeln es praktisch unmöglich machen, dass die Todesstrafe jemals vollzogen wird. Die Steinigung darf nämlich nur geschehen, wenn fünf Zeugen unabhängig voneinander den Ehebruch gesehen haben. Das muss man sich mal bildlich vorstellen. Tatsächlich ist dieses Recht bis zum 19./20. Jahrhundert nie angewendet worden.Und woher kommt diese Neuerfindung des Islam?
Es ist eine moderne Erfindung, so eine bestialische Interpretation islamischer Normen vorzunehmen. Diese Entwicklung war eine Reaktion auf die Kolonialzeit, auf Versuche einer gewaltsamen „Aufklärung von oben“.Was wäre ein Fall unterschiedlicher Interpretation? Das Kopftuch-Gebot?
Eine Vorschrift für Frauen, ein Kopftuch zu tragen, lässt sich aus dem Koran nicht so ohne weiteres ableiten, eine Totalverschleierung überhaupt nicht. Das ist reine Tradition. Eine primitive Auslegung des Korans und der Scharia geschieht vor allem in undemokratischen Staaten. Der Versuch in Saudi-Arabien, den Frauen das Autofahren zu verbieten und dieses Verbot aus der Scharia abzuleiten, ist Unsinn. Auch den sogenannten Ehrenmord gibt es weder im Koran noch in der Scharia.Warum legt niemand fest, was in der Scharia gelten soll?
Es gibt in der muslimischen Welt keinen Papst, noch nicht einmal eine Kirche. Jeder kann irgendwelchen Unsinn behaupten. Darum ist es so wichtig, dass wir die Interpretation des Islam und der Scharia nicht den Terroristen und Extremisten überlassen. (dpa/pro)