Derzeit wird viel über sexuellen Missbrauch an Schulen oder in Kirchengemeinden geredet. Wo findet Missbrauch am häufigsten statt?
Statistisch gesehen finden 70 Prozent des Missbrauchs im Bekanntenkreis statt. Zu 29 Prozent sind es Familienangehörige, die ein Kind missbrauchen. In 60 Prozent geschehen die Übergriffe durch Bekannte, das kann beispielsweise der Trainer im Verein oder der Jugendmitarbeiter sein. In 11 Prozent der Fälle ist der Täter ganz fremd. Ein Drittel der Täter sind übrigens Jugendliche. Kürzlich hatte ich einen Fall, in dem ein 14-Jähriger die 5-jährige Stiefschwester missbraucht hat. Solche Meldungen nehmen leider zu.
Wie erklären Sie sich die Zunahme jugendlicher Täter?
Viele junge Leute haben ein verschobenes Bild von Sexualität, auch durch die frühen Erfahrungen mit Pornografie. Es gibt Studien darüber, dass der Pornokonsum die Haltung zum Missbrauch relativiert. Experten beobachten, dass das durchschnittliche Einstiegsalter für Pornografie bei elf Jahren liegt. Manche von ihnen haben selbst Missbrauch erlebt und geben diese Erfahrung weiter.
Warum schweigen die betroffenen Kinder?
Das hat verschiedene Gründe. Meist ist das Schamgefühl groß und das Vertrauen zu den Eltern nicht gegeben. Ich erkläre es an einem Beispiel: Ein Junge, der von einem Verwandten während einer Familienfeier unsittlich berührt wurde, erzählt dies seiner Mutter und wird ausgelacht. "Das kann nicht sein, das hast Du falsch verstanden", bekommt er zu hören. Wenn der Verwandte nun sein Verhalten wiederholt, wird der Junge sich nicht mehr trauen, etwas zu sagen. Ein weiterer Aspekt ist, dass Opfer sich schämen, aber auch schuldig fühlen. Sie glauben, irgendwie eingewilligt zu haben. Hinzu kommt, dass bei längerem Missbrauch eine Bindung zwischen dem Täter und dem Opfer entsteht.
Wie kann das geschehen?
Das ist schwer zu verstehen und hängt mit dem Bedürfnis des Opfers nach Liebe und Zuwendung zusammen. Opfer erleben in der Beziehung zum Täter oft auch Geborgenheit und Annahme, sie werden gestreichelt, bekommen Geschenke. Andererseits empfinden sie Ekel bei den sexuellen Handlungen. Wenn die Opfer nun den Täter verraten, schaden sie ihm und verlieren eine vertraute Person. Das alles ergibt eine Mischung zwischen Ohnmacht und Überforderung.
Wie kann es passieren, dass Eltern ihrem Kind nicht glauben?
Oft steckt Angst dahinter, oder auch Unbehagen. Man will gar nicht denken, dass es in der eigenen Familie Missbrauch geben könnte und klammert es aus. Was nicht sein darf, soll nicht sein. Daher ist die öffentliche Diskussion gut, denn sie weckt das Bewusstsein für das Thema, dadurch werden die Anzeichen für Missbrauch wieder deutlicher wahrgenommen werden.
Oft sagen die Täter dem Kind aber, dass das, was passiert, ein Geheimnis ist, das sie niemandem erzählen sollen.
Ja leider. Daher ist es wichtig, Kindern von klein auf zu sagen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Gute Geheimnisse wie Geburtstagsgeschenke kann man für sich behalten. Schlechte Geheimnisse müssen nicht geheim bleiben. In vielen Fällen ist die Beziehung von Kindern und Eltern leider nicht so gut, dann kann das Kind nichts sagen.
Spielt es eine Rolle, wie das Kind aufgeklärt wurde in der Familie?
Natürlich. Viele Kinder haben eine Sprachunfähigkeit. Sie haben es nie gelernt, mit den Eltern über Sexualität zu reden. Wenn in der Familie nicht gut oder gar nicht aufgeklärt wurde, fehlen die Worte, um über Sexualität zu reden. Viele Eltern wiederum haben selbst keine richtige Aufklärung erlebt.
Warum melden sich viele Erwachsene erst heute zu Wort?
Damals waren Opfer in einem Abhängigkeitsverhältnis und hatten vermutlich niemanden zum Reden, sie hatten damit auch kein Ventil. Das wurde auch kaum öffentlich thematisiert. Manche nehmen die Folgen des Missbrauchs auch erst wahr, wenn die Sexualität in der Ehe zum Erliegen kommt oder seelische Störungen deutlich werden. Das kann nach vielen Jahren noch auftreten. Lebenskrisen sind oft Auslöser dafür. Wie Menschen Missbrauch erleben, ist übrigens unterschiedlich. Dabei spielen Art und Dauer des Missbrauchs, aber auch die Beziehung zu dem Täter, sowie die seelische Stabilität des Opfers eine entscheidende Rolle. Wenn Opfer den Missbrauch formulieren, ist dies der erste Schritt zur Heilung. Missbrauch, der ans Licht kommt, kann betreut werden.
Welche Anzeichen kann es dafür geben, dass ein Kind missbraucht wird?
Wenn beispielsweise ein Kind immer ziemlich traurig vom Opa nach Hause kommt, sollte man einmal nachhaken. Oder ein Kind geht nicht mehr gerne ins Bad, weil der große Bruder immer dazu kommt. Oder es hat blaue Flecke, von denen man nicht weiß, woher sie stammen. Wenn ein Kind in bestimmten Situationen auffallend still ist, den Kontakt zu anderen Personen nur widerwillig zulässt, können das Anhaltspunkte sein. Manche Kinder lassen in der Schule nach, andere nässen ein. Jedes Kind reagiert anders. Das ist ein sensibles Thema, denn all diese Symptome können auch andere Ursachen haben.
Was können Eltern tun, wenn sie den Verdacht haben, dass das Kind missbraucht wird?
Zuerst sollte man überlegen, zu wem das Kind Vertrauen hat. Derjenige könnte behutsam nach der Befindlichkeit fragen. Schwierig ist es, wenn man keine Beweise hat. Dann kann man weder den Täter überführen, noch dem Kind richtig helfen. Im schlimmsten Fall setzt der Täter, der verdächtigt wird, sogar das Kind noch mehr unter Druck, nichts zu sagen. Das macht es so schwierig, weil es sehr oft keine eindeutigen Beweise gibt, nur Beobachtungen. Wir müssen alle wachsam bleiben.
Was können Eltern tun, wenn das Kind sich verändert hat, aber nichts erzählen will und sie nicht weiterkommen?
Wir machen den Eltern Mut, einen Kinder- und Jugendtherapeuten aufzusuchen, der behutsam und spielerisch mit dem Kind arbeiten kann. Wichtig ist auch, strafrechtliche Schritte zu prüfen. Denn ein Täter, der nicht belangt wird, stellt ja eine Bedrohung für andere dar. Sehr oft ist es nicht nur eine Person, die missbraucht wird.
Sollte ein Therapeut einen Täter anzeigen? Wie weit reicht die Schweigepflicht?
Das ist nicht exakt gelöst. Die Schweigepflicht von Therapeuten kollidiert in Einzelfällen mit den Bestimmungen über unterlassene Hilfeleistung. Im Ernstfall könnte man als Therapeut auch angezeigt werden, wenn man eine Gefahr gesehen hat und nichts unternommen hat. Wenn Gefahr droht, dass weiterer Missbrauch stattfindet, kann man als Therapeut auch mitschuldig werden. Ein solcher Fall ist mir allerdings nicht bekannt.
Herr Trauernicht, vielen Dank für das Gespräch!
Rolf Trauernicht ist der Leiter des Weißen Kreuzes e. V., einem Fachverband des Diakonischen Werkes der EKD für Sexualethik und Seelsorge. Der 58-Jährige ist Pastor, Heilpraktiker und Coach (IHK). Das Weiße Kreuz wurde 1890 in Berlin gegründet.