Missbrauch in der Kirche: „Jeder hat es gewusst“

Der kirchenkritische Wettbewerbsfilms der Berlinale „Grace à Dieu“ begleitet die Missbrauchsopfer eines Priesters auf dem Weg von ihrer ersten Aussage bis zum Prozess. Regisseur François Ozon zeigt schmerzhaft detailliert, wie zermürbend der Kampf gegen die Institution Kirche für die Betroffenen ist – und das anhand einer wahren Geschichte. Eine Rezension von Anna Lutz
Von Anna Lutz
Trotz des Missbrauchs durch einen Priester in seiner Kindheit, hat sich Alexandre (r.) nicht vom christlichen Glauben abgewandt

Alexandre (Melvil Poupaud) lebt mit fünf Kindern und seiner Ehefrau ein glückliches Familienleben in Lyon und besucht regelmäßig katholische Messen. Jüngst hat er seine beiden ältesten Söhne firmen lassen. François (Denis Ménochet) und Emmanuel (Swann Arlaud) hingegen sind überzeugte Atheisten. François hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Bruder, ansonsten lebt er glücklich mit Frau und Kindern auf dem Land. Ganz anders Emmanuel. Er hasst seinen Vater, leidet unter psychischen und gesundheitlichen Problemen. Die Beziehung zu seiner Freundin ist wenig liebevoll und geprägt von Eifersucht und Wut.

Auf den ersten Blick scheinen diese Männer, deren Geschichten „Grace á Dieu“ (Gelobt sei Gott) erzählt, kaum etwas gemeinsam zu haben. Und doch teilen sie ein schreckliches Schicksal: Alle drei sind als Kinder von dem pädophilen Priester Bernard Preynat missbraucht worden. Er verging sich nicht nur an ihnen, sondern auch an mindestens 67 weiteren Jungen.

Der Missbrauch im Kindsalter zeigt auch im Leben der Erwachsenen Spuren – davon berichtet der Film „Grace á Dieu Foto: Jean-Claude Moireau
Der Missbrauch im Kindsalter zeigt auch im Leben der Erwachsenen Spuren – davon berichtet der Film „Grace á Dieu“

Regisseur François Ozon zeigt in seinem Film, wie der Missbrauch sich einem Krebsgeschwür gleich durch die Leben der Protagonisten frisst. Denn die Gewalt endet nicht mit der Versetzung des Geistlichen in die Seniorenarbeit, als die Kirche von seinen Taten erfährt. Als Alexandre als Erwachsener den Mut findet, offen über den Missbrauch zu sprechen und sich bei der Kirche darum bemüht, dass Preynat zur Verantwortung gezogen wird, findet er zwar viel Verständnis und auch offene Ohren. Doch der zuständige Kardinal verweigert Konsequenzen für den pädophilen Priester.

„Die Wunde wird Gott heilen, wenn wir nicht daran kratzen“, lässt er Alexandre in einer E-Mail wissen. Die Botschaft ist klar: Von der inzwischen verjährten Tat soll die Öffentlichkeit nichts erfahren. Stattdessen bemüht sich die Diözese um Versöhnung und Vergebung, organisiert ein Treffen zwischen dem Schuldigen und dem Opfer, das mit einem gemeinsamen Gebet endet, nicht aber mit der Einsicht des Pfarrers. Mehr noch: Alexandre findet heraus, dass Preynats Neigungen bekannt waren. Er selbst gab sie gegenüber seinen Vorgesetzten offen zu. „Jeder hat es gewusst“, sagte eine Kirchenmitarbeiterin einmal gegenüber Alexandre.

So entschließt sich Alexandre, trotz der Verjährung Anzeige zu erstatten. Die Polizei ist gezwungen, Ermittlungen aufzunehmen und so finden die drei Opfer schließlich zusammen und nehmen den Kampf gegen Preynat, vor allem aber gegen die Kirche auf.

Die Opfer organisieren sich: François (l.), Emmanuel (2.v.r.) und Alexandre (r.) Foto: Jean-Claude Moireau
Die Opfer organisieren sich: François (l.), Emmanuel (2.v.r.) und Alexandre (r.)

Die Geschichte der drei Männer und der insgesamt 70 Opfer Preynats ist wahr. Sie wird derzeit in Frankreich verhandelt. Doch Regisseur Ozon interessieren die juristischen Details des Falls wenig und auch die Einzelheiten des Missbrauchs spart er aus. Stattdessen erzählt er eine Geschichte vom Kampf Davids gegen Goliath. David, das sind die Missbrauchsopfer, Goliath die Kirche. Zur Steinschleuder wird ein selbstgegründeter Opferverein, der mithilfe der Medien eine Öffentlichkeit herzustellen vermag, vor der sich die Kirche mehr als alles andere fürchtet.

Über zwei Stunden beobachten die Zuschauer, wie Alexandre, Emmanuel und François ihre Strategien gegen die Kirche besprechen und planen. Wie sie mit ihren Anwälten sprechen und nebenbei Opfertreffen organisieren, um immer mehr Zeugenaussagen gegen Preynat zu sammeln. Kinobesucher erleben geradezu beiläufig Streitigkeiten der Familien mit, werden Zeuge epileptischer Anfälle Emmanuels und dürfen sich gemeinsam mit Alexandre und dessen Söhnen fragen, ob er nach alldem überhaupt noch gläubig sein kann.

„Grace à Dieu“ zieht sich über zwei Stunden in die Länge und ist so sicherlich für viele Zuschauer ermüdend. Doch Ozon schafft auf diese Weise auch ein Sinnbild dafür, wie langwierig und belastend die Arbeit der Opfer war, die nur deshalb einen Verein gründen mussten, weil sich die Kirche der juristischen Aufarbeitung verweigerte. Der in der Kindheit erlebte Missbrauch drängt so neu in ihr Leben, nimmt allen Raum ein, zerstört Beziehungen und sogar die Gesundheit. Manch einem mag die künstlerische Auseinandersetzung mit dem massenhaften Missbrauch innerhalb kirchlicher Institutionen mittlerweile wie kalter Kaffee vorkommen. Doch die Geschichten der Opfer müssen weiterhin gehört werden. Erst recht dann, wenn sie wie diese davon zeugen, dass die Kirche eine konstruktive Aufarbeitung trotz öffentlicher Lippenbekenntnisse verweigert.

Grace à Dieu, François Ozon, Frankreich 2019, 137 Minuten

Von: Anna Lutz

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