Viele Eltern kennen das Problem: Ab welchem Alter und in welchem Umfang sollen sie ihrem Kind ein Smartphone überlassen? Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt fordert in seinem Buch „Generation Angst“ klare Grenzen. Und er wirbt dafür, in Schulen auf Smartphones zu verzichten. Auch für Instagram und Co. fordert er ein höheres Mindestalter als bisher.
In seinem Spiegel-Bestseller bemängelt der US-Amerikaner, dass die junge Generation in der realen Welt überbehütet und in der virtuellen Welt allein gelassen wird. Das sei deswegen prekär, weil Smartphones Jugendlichen ein „alternatives Universum“ böten, das süchtig mache und nicht für ihr Alter geeignet sei.
Während es für Alkohol und Zigaretten klare Regeln gebe, vermisse er diese im digitalen Raum. Und das, obwohl zahlreiche Studien belegten, dass bei Teenagern die Zahl der Depressionen steige, je länger sie ihr Smartphone nutzen. Weil die empfindlichste Phase der Hirnentwicklung erst mit 16 Jahren abgeschlossen ist, will Haidt die Jugendlichen bis dahin vor den Inhalten der sozialen Medien beschützen.
Hexenkessel aus sozialem Wettbewerb
Diese seien ein „Hexenkessel aus sozialem Wettbewerb und vorausgewählten Influencer-Inhalten“. Soziale Medien wirkten geradezu toxisch – und das eigentlich rund um die Uhr. Die leistungsfähigen Filter und die Bearbeitungssoftware hätten die Plattformen immer attraktiver gemacht und die jungen Menschen an den Bildschirm gezogen.
Für Haidt sind die sozialen Medien Maschinen, die in wenigen Stunden „mentale Modelle eines Heranwachsenden für akzeptables Verhalten formen“. Die Evolution gestatte dem Menschen eigentlich bewusst eine „kulturelle Lehrzeit“, bevor er als Erwachsener behandelt wird: „Kinder haben keine Evolution hinter sich, die ihnen dabei helfen würde, mit der Viralität, Anonymität, Instabilität und dem Risiko der öffentlichen Beschämung umzugehen“, warnt der Psychologe.
Deswegen kann Haidt nicht nachvollziehen, warum in den USA schon 13-Jährige Verträge zur Nutzung von Youtube oder Tiktok abschließen können. Der Staat sollte das Mindestalter auf 16 Jahre heraufsetzen, mahnt er. Wer rastlos durch die sozialen Medien reise, finde viele kurzlebige Trends – ohne klare und beschränkende Normen. Außerdem würde durch Instagram, Tiktok und Co. Streben nach Ruhm durch Followerzahlen gefördert.
Einen guten Überblick über die deutsche Perspektive hat Florian Karcher von der CVJM-Hochschule in Kassel. Aus dessen Sicht weist Haidt auf einige wichtige Herausforderungen hin, denen Kinder beim Aufwachsen ausgesetzt sind. Für ihn ist das kein Grund, in Panik zu geraten: „Die Diskussion, die wir heute um das Smartphone führen, haben frühere Generationen bei der Erfindung des Fernsehens und des Radios auch geführt und auch damals gab es Stimmen aus Wissenschaft und Medizin, die warnten.“
„Smartphone ist die moderne Injektionsnadel“
Es gebe viele fundierte Studien, die darauf verweisen, dass es nicht nur ein Faktor ist, sondern dass negative Folgen immer im Zusammenhang mit mehreren Faktoren stehen: „Ein Kind, das mit Smartphone aufwächst und dessen Familiensystem intakt ist, wo Medienkonsum begleitet und reflektiert wird, ist deutlich weniger gefährdet als ein Kind, das mit Inhalten und Umgang allein klarkommen muss.“ So oder so gehe es darum, sich bewusst zu machen, Kindern von Medien fernzuhalten. Das funktioniere immerhin noch in den ersten Lebensjahren: „Wir beschützen sie am besten, in dem wir sie psychisch und sozial fit machen, damit umzugehen – und dazu kann auch Beschränkung sinnvoll sein“, betont Karcher gegenüber PRO.
Für Haidt steht fest: „Wir können von Kindern und Jugendlichen nicht erwarten, in der wirklichen Welt soziale Fertigkeiten auf Erwachsenenniveau zu entwickeln, wenn sie weitgehend in der virtuellen Welt interagieren.“ Zudem erfüllten soziale Medien meistens nicht die Sehnsucht der Menschen: nämlich das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Noch drastischer drückt es Suchtforscherin Anna Lembke aus. Sie bezeichnet das Smartphone als „moderne Injektionsnadel, die einer verkabelten Generation rund um die Uhr digitales Dopamin liefert“.
Quantität der Beziehungen steigend, Qualität sinkend
Mädchen seien besonders verletzlich, weil sie stärker von visuellen sozialen Vergleichen und Perfektionismus betroffen seien als Jungen. Die seien eher anfällig bei Videospielen. Dafür würden sie viel Zeit verwenden. Aber Videospiele würden in den seltensten Fällen helfen, die Probleme der realen Welt einschätzen zu können. Haidt benennt auch die Vorzüge sozialer Medien, wenn es darum geht, Informationen zu erhalten, Freundschaften zu pflegen oder virtuelle Gemeinschaften für verschiedene Interessen aufzubauen. Insgesamt überwiegen für ihn aber deutlich die Nachteile: vom Schlafmangel über die fehlende Aufmerksamkeit bis zur Abhängigkeit.
Für Haidt gehören Smartphones deswegen nicht in Schulen. Nur ohne Smartphones könnten sich Schüler wieder auf ihre Mitschüler und Lehrer konzentrieren. Haidt ist sich sogar sicher, dass Schulen spätestens nach zwei Jahren Verbesserungen der psychischen Verfassung ihrer Schüler erkennen können.
Sein Wunsch ist es, dass Eltern ihre Kinder in der virtuellen Welt besser überwachen als im realen Leben. Sein Lösungsansatz sieht vor, wieder mehr hinauszugehen und zu spielen. Denn das bleibe auf der Strecke. Wer sein Leben zu sehr auf das Smartphone fixiere, werde nach unten gezogen: „Das Smartphone verändert die Art, wie wir denken, fühlen, urteilen und mit anderen in Beziehung treten.“
Von den Weltreligionen lernen
Wer draußen spiele und das Adrenalin spüre, wenn er auf Bäume klettere, teste das Maß an Risiko und Nervenkitzel. Genau das hätten viele Eltern verlernt, indem sie riskante Spiele verboten und ihre Kinder immer stärker überwacht hätten. Wenn Kinder sich aber in öffentlichen Räumen wohlfühlen und sich dort gerne treffen, erzeuge das eine Gemeinschaft, die soziale Medien nicht leisten könnten.
In einem Kapitel bringt Haidt, der sich als Atheist bezeichnet, auch Jesus ins Spiel. Der habe dazu ermahnt, überlegt über andere zu urteilen und darauf zu achten, im Hinblick auf andere und sich selbst nicht mit zweierlei Maß zu messen: „Soziale Medien erziehen uns dazu, genau das Gegenteil davon zu tun. Die großen Weltreligionen ermahnen uns, andere nicht zu verurteilen und Nachsicht zu üben.“
Haidt weiß um den Druck, der auf Eltern lastet, die ihren Kindern kein Smartphone oder keinen Social-Media-Account erlauben. Diese könnten einander stärken und ihre Argumente offensiv vertreten. Es brauche weniger und bessere Erlebnisse an Bildschirmen und mehr und bessere Erlebnisse in der realen Welt.
Eltern müssten für einen geschützten Raum sorgen, in dem sie ihre Kinder mit Liebe, Sicherheit und Stabilität aufwachsen ließen. Was das für das jeweilige Alter bedeutet, erklärt Haidt in seinem Buch. Eltern sollten selbst gute Vorbilder sein, auch was ihren eigenen Umgang mit dem Smartphone betrifft, aber auch zulassen, Angst um ihre Kinder zu erleben. Dabei würden sie erfahren, dass Kinder mehr könnten als mancher denke.
Je später Eltern ihren Kindern ein Smartphone erlaubten, desto besser sei das. Die Entwicklung zum aktuellen Status sei ein „katastrophaler Fehler“ gewesen. Jetzt sei es an der Zeit, die „Kinder nach Hause zu holen“ – oder anders gesagt: nach draußen zu schicken.
Jonathan Haidt, „Generation Angst: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“, 448 Seiten, 26 Euro.
Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 5/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.