„Menschen verfallen in die Gleichgültigkeit“

Die Ukraine versinkt in vielen Bereichen in der Gleichgültigkeit. Dieses Fazit zieht der Missionsleiter von „Brücke der Hoffnung“ Burkhard Rudat. Im PRO-Interview zu seinem neuen Buch verrät er, wo es trotzdem Hoffnungsschimmer gibt.
Von Johannes Blöcher-Weil
Missionsleiter Burkhard Rudat

PRO: Sie sind seit mehreren Jahrzehnten in der Missionsarbeit im Ostblock tätig: Welche großen Entwicklungslinien können Sie beobachten?

Burkhard Rudat: Im Kommunismus der Sowjetunion regierte eine Elitegruppe und das Volk musste folgen. Wer dies nicht tat, wurde bestraft. In dieser Zeit haben die meisten Menschen ihre Eigeninitiative verloren. Für Entwicklungen war die Regierung zuständig. Und da in diesem Bereich wenig zu sehen war, waren die Menschen enttäuscht und später gleichgültig. Sie hatten das Gefühl, nichts ändern zu können. Viele Menschen, besonders Fachkräfte, sind ins Ausland abgewandert und fehlen im Land. Es gibt hier ein Gefälle zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung. Diese Einschätzung trifft auf die meisten Menschen der Landbevölkerung zu.

Wo sehen Sie als Missionswerk keine Entwicklung und Stillstand?

Die fehlende Eigeninitiative wirkt sich stark auf die Wirtschaft aus. Es gibt große Betriebe, kleine Baubrigaden und einzelne Handwerker, aber keinen wirklichen Mittelstand. Wer sich Handwerker bestellt, um Haus oder Wohnung zu renovieren, wird gefragt, ob er „eine europäische oder eine kosmetische Renovierung“ möchte. Dieser zweite Ansatz wird bei den meisten Menschen in vielen Lebensbereichen sichtbar. Sie wollen keine Veränderung, sondern versuchen ihrem grauen, unmotivierten Alltag an einigen Stellen einen neuen Anstrich zu geben.

Können Sie Beispiele nennen?

Das Schulsystem befindet sich auf einem extrem niedrigen Niveau. Um den Schulen einen kosmetischen Anstrich zu geben, um sie besser dastehen zu lassen, heißt die einfachste, weiterbildende Schule „Technikum“, die mit etwas höherem Lehrinhalt „College“ oder gar „Lyzeum“. Das ist nicht zu vergleichen mit den identischen Begriffen in unserer Sprache.

Sie beschreiben in Ihrem Buch konkrete familiäre Situationen: In welchen Bereichen fühlt man sich am ehesten im Kampf gegen Windmühlen?

Es gibt in den Gebieten, in denen wir arbeiten, kaum Veränderung. Das Motto ist: Es war schon immer so und es wird immer so bleiben. Viele Eltern unserer Kinder haben selbst nur unregelmäßig eine Schule besucht und können weder lesen noch schreiben. Auf dieser Basis ist es fast unmöglich eine Arbeitsstelle zu finden. Viele von ihnen wohnen in „Vergessenen Dörfern“ in heruntergekommenen Hütten. Sie ziehen bettelnd über die Dörfer oder suchen nach Gelegenheitsjobs. Sie helfen alten Menschen im Garten und erhalten oft als Lohn ein wenig Obst und Gemüse. Andere setzen ein Kind nach dem anderen in die Welt, um vom Kindergeld zu leben. Um die Lebensumstände zu ertragen, versuchen sie ihre Sorgen im selbstgebrannten Wodka zu ertränken.

Was bedeutet das für die Kinder?

Viele von ihnen kommen in unsere Kinderhäuser. Wir versuchen ihnen zu helfen, mit Dingen, die sie in ihrer Familie nicht kennengelernt haben. Das fängt bei der Hygiene und regelmäßigen Mahlzeiten an. Es geht weiter mit Lebensfragen, Lebenszielen und einem aufbauenden Lebensstil. Am Ende steht für einige unserer Kinder unser Glaubenskurs „In Seiner Nähe!“. Wir haben mit jedem Kind Ziele vor Augen. Jeden Abend gehen unsere Kinder in ihre Familien zurück, wo sie Alkohol, Gewalt und sexuelle Übergriffe ertragen. Es bleibt die Frage, wie wir mit jedem Kind unsere Ziele erreichen oder ob die Spuren aus ihren Familien bereits so tief in ihnen sind, dass sie in denselben Lebenskreislauf wie ihre Eltern einschlagen werden.

Welche Wunder haben Sie erlebt?

Meine Berufung in die Ukraine. Anfang der 90er Jahr habe ich den Leiter aller Gefängnisse in Russland kennengelernt. Er hat uns gebeten in russischen Gefängnissen zu helfen, um Hoffnung zu verbreiten. In den kommenden Jahren bin ich mit Gruppen von 40 Teilnehmern aus dem Westen durch Gefängnisse gereist, habe eine Organisation mit aufgebaut, die kleine Gefängnisgemeinden betreut hat. Diese Zeit hat viel Kraft gekostet. Ich kann mich noch gut an einen Nachmittag erinnern, an dem ich ausgebrannt mit einem Freund in einem Hotelzimmer in Moskau saß, als wir uns ziemlich erschöpft, Gedanken um die nächsten Schritte gemacht haben.

Foto: Brücke der Hoffnung
In ihren Kinderheimen hat „Brücke der Hoffnung“ vor allem die jungen Menschen im Blick

Wie haben Sie sich entschieden?

Nach einem langen Gespräch haben wir beschlossen unsere Gedanken und Gefühle im Gebet auszusprechen. Plötzlich klopfte es an der Tür. Ein völlig übermüdeter Pastor aus Kiew stand vor der Tür, den ich bisher einmal kurz getroffen hatte. Er war die ganze Nacht mit dem Zug nach Moskau gefahren. Er sagte mir: „Burkhard, meine Gemeinde hat mich zu dir geschickt. Du musst zu uns in die Ukraine kommen und uns helfen. Wir haben bereits eine möblierte Wohnung für dich gemietet.“ Am nächsten Abend saß ich im Nachtzug nach Kiew.

Ab dann hat Sie die Ukraine nicht mehr losgelassen…

So ist es! Um noch eins von vielen anderen Wundern zu erleben. Ich war drei Wochen in der Ukraine. Wir planten an einem Montag mit unseren Mitarbeitern die kommenden Monate. Dabei hatten wir unser finanzielles Budget schon weit überschritten. Da klingelte das Telefon. Ein Mitarbeiter informierte mich, dass es ein Gesetz gibt, dass LKW, die älter als zwölf Jahre sind, das Land nicht mehr verlassen dürfen. Unser Auflieger war 13 Jahre alt. Ich war ratlos, von welchem Geld ich neue LKW kaufen sollte. Wir brauchten 20.080 Euro für ein Gerät, das infrage kam. Unser Konto war fast leer. Wie durch ein Wunder hatten wir wenige Tage später fast genau das Geld auf dem Konto, das wir für die Anschaffung brauchten. Als ich die Geschichte am kommenden Sonntag im Gottesdienst erzählte, hat mir eine Frau gesagt, dass ja noch 80 Euro fehlten, und mir das Geld auch noch in die Hand gedrückt.

Die Welt lebt jetzt seit 18 Monaten in der Corona-Pandemie. Was bedeutet das für ein Land wie die Ukraine – im Gegensatz zu Deutschland?

Man spürt, dass die Corona-Krise die Wirtschaft in der Ukraine schwer belastet hat. In diesen Wochen müssten Schulen renoviert, Heizungen repariert werden. Die Regierung erhält aus vielen Bereichen Anfragen, die finanziell unterstützt werden müssten: das Gesundheitswesen, der Straßenbau, die Renten, viele soziale Bereiche. Die Finanzen sind aber nur sehr begrenzt vorhanden. Seit einigen Monaten erhält nur noch derjenige Kindergeld, der eine feste Arbeitsstelle hat. Doch während der Corona-Krise kann man in den armen Gebieten kaum Arbeit finden. Wie überlebt man dann, wenn einem auch noch das Kindergeld gestrichen wird?

Foto: Brücke der Hoffnung
Vor allem viele ältere Menschen verfallen in Resignation

Teilen Sie die Einschätzung, dass sich Corona als Brennglas für die Gesellschaft erwiesen hat in der Ukraine?

In der Anfangszeit der Corona-Krise hatte man Bedenken, dass man erst im nächsten Jahr einen Impfstoff erhält, der von der Weltgesundheitsorganisation WHO akzeptiert ist. Nun ist genügend Impfstoff vorhanden und man kann sich jederzeit impfen lassen. Doch die Bereitschaft ist niedrig. Wenige Menschen lesen Zeitungen. Sie vertrauen eher seltsamen Gerüchten zur sinkenden Impfbereitschaft als der Politik.

Welche Arbeit von „Brücke der Hoffnung” ist aktuell möglich?

Das Zentrum von „Brücke der Hoffnung“ liegt in Swetlowodsk. Die Stadt in der Südukraine hat 44.000 Einwohner und gilt als eines der ärmsten Gebiete der Ukraine. Wir haben dort über 30 hauptamtliche Mitarbeiter angestellt. Die meisten von ihnen sind Erzieherinnen. Hinzu kommen drei „Zufluchtsorte“ in Dörfern. Unsere Kinder kommen aus armen, oft gestörten Familien. Unsere jüngsten Gäste besuchen das „Spatzennest“. Wenn sie eingeschult werden, nehmen wir sie in Kleingruppen, mit bis zu acht Kindern, auf. In unserer Lehrwerkstatt werden Mädchen auf ihre berufliche Zukunft vorbereitet. In unserem Programm „Fliegen lernen“, helfen wir ihnen bei ihren Schritten in ihr berufliches Leben. In unserem „Tageskinderheim“ verbringen Kinder aus schwierigen Familien den ganzen Tag und schlafen nur zu Hause. In unserer „Villa Regenbogen“ werden Mädchen in Notlagen aufgenommen. In Seminaren unterrichten wir Eltern in Erziehungsfragen und unsere Erzieherinnen nehmen an Weiterbildungen teil. In unseren humanitären Hilfsprogrammen unterstützen wir bedürftige Familien durch die Aktionen, Direkthilfe, Starthilfe und Winterhilfe.

Vielen Dank für das Gespräch.

Burkhard Rudat ist Missionsleiter bei „Brücke der Hoffnung“. In seinem neuesten Buch „Hoffnungsträger für die Ukraine in Zeiten von Krieg und Corona-Krise“ berichtet er von seiner langjährigen Erfahrung in der Ukraine und der Begegnung mit den Menschen vor Ort.

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