Herr Reinmuth, Sie waren zwölf Jahre Pfarrer. Nun sind sie stellvertretender evangelischer Rundfunkbeauftragter. Was ist die größere Herausforderung?
Reinmuth: Als Gemeindepfarrer war ich Allrounder: Gottesdienste gestalten, Menschen seelsorgerlich begleiten, Konfirmanden unterrichten, Ehrenamtliche schulen, mit Kindergärten und Altenheimen zusammenarbeiten, immer wieder kommunizieren, wertschätzen, das Ganze zusammenhalten. Diese Vielfalt ist herausfordernd. Die Rundfunkarbeit ist spezieller. Heute redigiere ich Sendemanuskripte, produziere im Studio und begleite Live-Übertragungen von Gottesdiensten, die minutengenau vorbereitet wurden. Plötzlich erreichen die Worte nicht hundert Menschen, sondern je nach Sendeplatz sogar eine Million. Man bewegt sich mit der Verkündigung in den Massenmedien auf einem ganz anderen Spielfeld. Die Herausforderungen sind zu unterschiedlich, um sie miteinander zu vergleichen.
Als Pfarrer lag Ihnen moderne Gemeindearbeit am Herzen. Was ist das beste Rezept, um Menschen heute mit der biblischen Botschaft zu erreichen?
Wenn es ein Rezept gäbe, würden wir es einfach so machen. Dann könnten wir bald sagen: Mission erfüllt. Aber so einfach ist es nicht. Es gibt vielleicht ein paar Zutaten, die sich bewährt haben, damit Menschen zumindest auf den Geschmack kommen. In meiner Kirchengemeinde waren es etwa die monatlichen Familiengottesdienste. Die Grundidee war: Was Kinder und Jugendliche verstehen, verstehen Erwachsene auch. Dann stand ein Symbol im Mittelpunkt, eine Geschichte, eine Aktion: anschaulich, einfach, berührend. Das Einfache hatte oft eine große Tiefe. Viele haben gesagt: Hier geht es um mich und meine Fragen. Bei moderner Musik und anschließend Pizza im Gemeindehaus brummte der Laden. Was bei jeder Trauerfeier gelingen sollte, nämlich das Evangelium in eine sehr konkrete Situation hineinzusprechen, das sollte auch in jedem anderen Gottesdienst, in jeder Radioandacht der Anspruch sein. Wir erreichen Menschen, wenn wir mit ihnen über ihr Leben reden – im Licht des Evangeliums. Außerdem würde ich noch die Musik nennen: Wir haben mit unserer Band aus biblischen Geschichten sogenannte Rock-Storys gemacht und biblische Geschichten vertont. Als Rundfunkpfarrer komme ich heute oft in Gemeinden mit großartigen Chören. Auch die alte geistliche Musik erreicht bis heute viele Menschen mit der biblischen Botschaft.
Was wünschen Sie sich aktuell von Ihrer Kirche am meisten?
Gelassenheit und Gottvertrauen. Das Evangelium findet seinen Weg. Dazu den Mut, Neues auszuprobieren, ganz egal, ob man damit gleich erfolgreich ist oder auch mal auf die Nase fällt. Die mobile Kirche auf dem Marktplatz, „Jana glaubt“ auf YouTube, der After-Work-Gottesdienst in Clubatmosphäre am Freitagabend. Hauptsache, wir bleiben in Bewegung. Dazu wünsche ich mir Persönlichkeiten, die einen klaren inneren Kompass haben, die sich dafür einsetzen, dass wir uns in dieser Gesellschaft gegenseitig achten und solidarisch sind mit den Schwachen. „Ich zuerst“ ist sicher nicht Gottes Idee vom Leben. Die Kirchen sind Akteure, die das Miteinander in der Gesellschaft stärken können, sowohl vor Ort als auch im Statement des Bischofs in der Tagesschau.
Nun sind Sie stellvertretender evangelischer WDR-Rundfunkbeauftragter. Was tut jemand mit einem derart sperrigen Titel?
Viele Worte, die kaum auf eine Visitenkarte passen. Spaß beiseite: Die drei Landeskirchen und die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) unterhalten ein gemeinsames Rundfunkreferat in Nordrhein-Westfalen, also dem Sendegebiet des WDR. Zusammen mit vielen Autoren gestalten wir die kirchlichen Beiträge im WDR-Radio, auf jeder Welle zur Prime-Time, morgens kurz vor den Nachrichten. Dazu kommen längere Beiträge wie die Choralandacht am Samstag oder das Geistliche Wort am Sonntag. Das sind 22 verschiedene Sendungen pro Woche. Schließlich bereiten wir mit Kirchengemeinden zusammen Radiogottesdienste vor, die im WDR und im Deutschlandfunk aus NRW übertragen werden. Dazu kommen einige Fernsehgottesdienste für die ARD. Das Team der evangelischen Rundfunkbeauftragten bildet sozusagen die kirchliche Redaktion für all diese Sendungen.
Für Ihr Buch „Im schlimmsten Fall geht alles gut“ beschäftigen Sie sich mit dem Thema Vertrauen. Welchen Menschen vertrauen Sie?
Ich vertraue zuerst denen, die mir besonders nahe sind: meiner Frau und meiner Tochter, dazu meinen engsten Freundinnen und Freunden. Auch meine Kollegen gehören dazu. Man muss sich aufeinander verlassen können, wenn man eng zusammenarbeitet. Manchmal entsteht Vertrauen sehr spontan. Ich schlage mich zurzeit mit einer Krebserkrankung herum. Als ich das erste Mal mit meiner behandelnden Ärztin gesprochen habe, hatte ich sofort Vertrauen. Sie hat Erfahrung und strahlt Sicherheit aus. Das beruhigt. Man kann sich auch zum Vertrauen entschließen: Unsere Nachbarn sehen immer nach unserer Katze, wenn wir verreist sind. Wir sind nicht enge Freunde, aber das Vertrauen war von Anfang an da. Da gibt es keinen Zweifel.
Was war für Sie die wichtigste Entdeckung beim Thema Vertrauen?
Wie unglaublich stark bei vielen das Grundvertrauen ins Leben ist. Das kann erschüttert werden durch eine Krankheit, einen Verlust oder was auch immer. Eigentlich geht nichts mehr und trotzdem sagt einer: Ich versuche es, ich mache den nächsten Schritt, es wird gut. Das fasziniert mich. Dass es da immer noch eine Kraftquelle gibt. Wir können ja auch nicht wachsen ohne Vertrauen. Wenn ich Angst habe vor dem, was hinter der nächsten Kurve kommt, geht es nicht weiter. Wer sich entwickeln will, muss Risiken eingehen. Kann sein, es gibt Rückschläge. Aber ganz oft wird Vertrauen belohnt. Es ist eine unglaublich positive Kraft.
Hilft der Glaube, sich nicht manipulieren zu lassen?
Das wäre schön, aber das kann man so pauschal nicht sagen. Die Deutschen Christen haben sich manipulieren und von den Nazis gleichschalten lassen. Ganz offenkundig gegen die biblische Botschaft. Die Bekennende Kirche hat dagegen formuliert: Es gibt keinen Bereich unseres Lebens, in dem wir anderen Herren zu eigen wären als allein Jesus Christus. Heute gibt es wieder rechtspopulistische Tendenzen. Die evangelikalen Rechten in den USA oder in Brasilien sind ein starker Teil davon. Da scheint der Glaube kein kritisches Korrektiv zu sein. Das macht mir Sorgen. Mein Glaube hilft mir, in vielen Fragen eine klare Haltung und einen festen Standpunkt zu haben. Ich kann unterscheiden, was für mich richtig oder falsch ist. Um sich nicht manipulieren zu lassen, braucht es aber kritisches Denken. Die Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden, also gesellschaftliche Entwicklungen eigenständig wahrzunehmen und dann aus christlicher Sicht zu bewerten. Dazu muss man nicht nur die Bibel, sondern auch die Zeitung lesen. Und man sollte fähig sein, über beides zu diskutieren, anderen zuzuhören, andere Standpunkte für möglich zu halten. Vielleicht schützt das vor Manipulation.
In welchen Momenten zweifeln Sie daran, Gott zu vertrauen?
Es gab einen solchen Moment, als ich vor zwanzig Jahren nach einem Routineeingriff plötzlich zurück ins Krankenhaus musste. Da war nichts gut gegangen, sondern alles schief gelaufen. Komplikationen, Notfall-OP, Intensivstation. Als ich da lag, habe ich ziemlich mit Gott gerungen: Was soll das alles? Was hast du dir dabei gedacht? Wie lange soll ich hier noch so liegen? Ein halbes Jahr später kamen die Albträume, eine posttraumatische Belastungsstörung. Eine Therapie hat mir gut geholfen. Irgendwann konnte ich anders zurücksehen. Es ist ja immer die Frage: Wie deute ich das, was mir zustößt? Was zuerst schlimm war, hatte für mich am Ende viel Gutes: Ich kann heute viel mehr genießen. Ich kann viel besser unterscheiden, was für mich wichtig ist und was nicht. Ich bin in vielem erst mal sehr gelassen. Manche Konkurrenz oder Eitelkeit unter anderen ist mir heute ein Rätsel. Dann frage ich mich: Was glaubt ihr eigentlich zu gewinnen? Draußen scheint die Sonne, freut euch am Leben. Es ist jetzt. Für mich war das damals ein Schlüsselmoment. Wenn mir heute etwas zustößt, hadere ich nicht so sehr mit Gott, sondern frage mich eher: Welche Aufgabe stellt mir das Leben jetzt? Was gibt mir das zu lernen?
Liegen die Themen für Ihr Buch auf der Hand bzw. auf der Straße?
Absolut. Man muss nur die Augen aufmachen. Ich erzähle im Buch viele kleine Beobachtungen und Erlebnisse, die dann zu Geschichten werden. Oft sind es Begegnungen mit anderen, die mich überrascht oder nachdenklich gemacht haben. Ein Spaziergang am Strand, ein Besuch im Krankenhaus, das eigene Klassentreffen. Irgendetwas passiert und ich denke: Das musst du eigentlich erzählen.
Sie verfassen theologische Fachbeiträge und Predigthilfen. Was zeichnet eine gute Predigt aus?
Sie spricht mit den Zuhörern über ihr Leben. Sie bringt diese Fragen ins Gespräch mit der biblischen Botschaft. Was sind die Lebens- und Glaubenserfahrungen, die hinter den biblischen Texten stehen? Wie helfen sie uns, das eigene Leben zu deuten? Nicht jeder Text spricht in unser Leben hinein, weil die Kontexte sich verändert haben. Wir „verstehen“ erst, wenn es eine Verbindung gibt. Die gilt es aufzuspüren. Dann ist eine gute Predigt auch eine gute öffentliche Rede. Sie kennt und nutzt die Regeln der Rhetorik. Sie konzentriert sich auf ein Thema. Andere Themen sind ein anderes Mal dran. Sie verfolgt eine Absicht: Sie will aufklären und überzeugen oder trösten und Halt geben oder im Glauben vergewissern, aber nicht alles gleichzeitig. Ihre Sprache ist konkret und anschaulich. Es ist gut, wenn sie etwas zu erzählen hat, das Menschen berührt. Schließlich spielt die Person des Predigers eine wichtige Rolle. Sie kennt oder teilt das Leben der Zuhörer und strahlt etwas aus. Nur, was mich selbst bewegt und überzeugt, kann auch andere bewegen und überzeugen.
Die Menschen haben das Gefühl heute ständig verfügbar und erreichbar zu sein. Sie finden das nicht nur gut.
Das stimmt. Die modernen Kommunikationsmittel erzeugen einen Druck, den es früher so nicht gab. Die Kommunikation ist viel schneller geworden. Sie geschieht völlig unabhängig von Zeit und Ort. Ich finde das ungesund. Es entspricht nicht dem Rhythmus von Arbeit und Ruhe. Also muss ich mir Inseln der Unerreichbarkeit schaffen. Auch hier hilft eine gewisse Gelassenheit und ein Grundvertrauen ins Leben. In der Regel geht die Welt nicht unter, wenn ich mich nicht sofort melde.
Bei der Lektüre des Buches betonen Sie die Begrenztheit des eigenen Lebens häufig. Warum?
Es gibt für mich kaum einen anderen Ort, an dem ich so intensiv zu leben gelernt habe, wie in der Nähe des Todes. Das hat auch biografische Gründe. Ich habe eine lebensrettende Operation überstanden. Danach kehrt man verändert ins Leben zurück. Heute fordert mich eine Krebserkrankung. Sie kann wohl überwunden werden, aber erst einmal ist sie da. In der Zeit als Gemeindepfarrer und noch etwas darüber hinaus habe ich einen ambulanten Hospizdienst geleitet als Vorsitzender des Vereins. Wir haben Ehrenamtliche in der Sterbebegleitung geschult. Ich habe selbst über längere Zeit Sterbende begleitet. Hier gibt es unglaublich viel über das Leben zu lernen. Dann geht es ja besonders um das Vertrauen auf andere: Auf wen kann ich mich wirklich verlassen? Und es geht oft um das eigene Gottvertrauen oder das Grundvertrauen ins Leben: Was trägt mich, wenn es schwer wird? Vielleicht strahlt das aus auch auf die anderen, leichteren Themen des Buches.
Wie möchten Sie in Zukunft einüben, Gott zu vertrauen?
Ich muss da von mir aus nichts Neues erfinden. Etwas gelebte Spiritualität gehört für mich dazu. Ich bin oft spontan dankbar für das Leben, das Gott mir schenkt. Dann stehe auf der Wiese in unserem kleinen Garten hinterm Haus, spüre die Sonne auf der Haut, halte inne und danke Gott. Einfach so. Oder ich nehme unsere Tochter in den Arm und schicke wieder ein kleines Dankgebet zum Himmel. In der Krankheit bitte ich Gott, dass er mich stärkt und irgendwie da durch trägt. Meist abends im Bett, bevor ich einschlafe. Oder ich lege ihm andere Menschen ans Herz, die mir wichtig sind. Ich weiß, dass andere das auch für mich tun. So bleiben wir verbunden. Das Vertrauen trägt. Es wächst sogar. Aber Sie haben Recht mit dem „einüben“: Wer aus der Übung ist, kann ja mal vorsichtig wieder anfangen. Wie gesagt: Zum Vertrauen kann man sich entschließen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Von: Johannes Blöcher-Weil