Mit den vollen Kirchen am Reformationstag hatte kaum einer gerechnet. Ob die Kirchen auch über Weihnachten und andere Feiertage hinaus immer so voll sein sollten, darüber diskutieren die beiden Zeit-Redakteure Patrik Schwarz und Evelyn Finger in einem Pro und Contra. Patrik Schwarz würde sich wünschen, dass sich die Menschen „dieses Glück von Gemeinschaft öfter gönnen würden“. Seine Kollegin Evelyn Finger dagegen findet, dass jeder fromm sein darf, wo und wie er will.
Schwarz ist der Auffassung, dass die Pfarrer Freundschaft mit den „Weihnachtschristen“ schließen sollten. Wenn die Kirchen voll seien, zweifelten Pfarrer häufig, ob alle Besucher „echte Christen“ seien. Aus Sicht von Schwarz wünschten sich potenzielle Kirchgänger einen schönen Kirchenraum, eine aufrichtige Predigt, eine Liturgie, die das Heilige vom Alltäglichen abzuheben weiß – und, bitte, keine leeren Kirchenbänke. „Was nottut, ist also der Aufbruch vieler Christenmenschen aus ihrer selbst verschuldeten Vereinzelung.“
Erst der Glaube macht den Christen zum Gläubigen
Der Kommentator weiter: „Als aufgeklärte Zeitgenossen kann man es mit Gottes Anwesenheit kaum ernst meinen – und doch macht erst der Glaube daran den Christen zum Gläubigen.“ Kirche könne der Ort sein, der einer Religiosität wieder eine Heimat gibt, die losgelöst ist von einem greifbaren, auch streitbaren Gottesbild. Die christliche Liturgie verspreche einen Gott, der mitten unter uns sei. Deswegen dürften sich die Gläubigen und die Pfarrer etwas zutrauen. Schwarz hält dem Leser das Kind in der Krippe vor Augen: „Es tut nichts – und ist doch alles bei diesem Fest.“ Daran müssten auch die Pfarrer glauben.
Evelyn Finger verweist auf die Kinder muslimischer Einwanderer. Die meisten von ihnen hätten keinen Bezug zur Kirche, bestünden aber auf Weihnachten und einem Weihnachtsbaum. „Christliche Christentumsskeptiker“ und „selbstkritische Abendlandsverächter“ täten solche Kinderwünsche als Gier nach Geschenken ab: „Das ist kühl und materialistisch gedacht, Gott sei Dank aber unwahrscheinlich. Denn wer einmal erlebt hat, wie ein Kind alle Geschenke liegen ließ, weil ein altes Kirchenlied erklang oder Kerzen aufflammten, der ahnt, dass es eine menschliche Sehnsucht gibt, die über jede Religionskritik erhaben bleibt“, schreibt Finger.
Mit weniger Frömmigkeit sicherer leben
Die Menschen sehnten sich nach dem Sakralen und dem Wunderbaren: „Die Bibel nennt es Heiland und Erlöser.“ Manche glaubten noch, dass es dafür eine volle Kirche brauche. „Der Wunsch nach einer traditionsstolzen Christlichkeit, die uns immer so volle Kirchen bescheren möge wie an Weihnachten, womöglich noch, um einem traditionsstolzen Islam Paroli zu bieten, ist gefährlich.“ Alle, die je aus Glaubensgründen gehasst wurden, wüssten, dass sie mit weniger Frömmigkeit sicherer lebten. „Das ist kein Einwand gegen das Weihnachtschristentum, aber gegen den Wunsch, es möge stets so sein wie an Heiligabend.“
Erst eine gewisse Distanz zum eigenen Glauben mache friedfertig. Man könne die eigene Wahrheit für wahr halten und doch die Wahrheit des anderen voll akzeptieren. Wie die Kinder. Finger bilanziert: „Jeder darf hier glauben, wie er will. Also bitte nach Weihnachten nicht über leere Kirchen klagen, sondern Gott danken, dass er sich anzweifeln lässt.“
Von: Johannes Weil