„Es braucht einen Journalismus, der die Zusammenhänge erklärt“

Facebook, Twitter und Co. haben den Journalismus verändert. Mehr denn je kommt es darauf an, Informationen genau zu prüfen, sie einzuordnen und nicht blind einem Meinungs­trend zu folgen. Und der Leser ist herausgefordert, aktiv Medien zu nutzen und nach Informationen zu suchen, um nicht in einer Filterblase zu landen.
Von PRO
Journalisten sind heute multimedial gefordert: Neben dem journalistischen Endprodukt wollten auch die sozialen Medien bedient, Bilder bearbeitet oder Videos gedreht werden

Der Schreibtisch ist übersät mit Papieren, mittendrin ein Röhrenmonitor. Der Mann dahinter hat die Hemdärmel hochgekrempelt, der Telefonhörer klebt am Ohr, die Kaffeetasse in der Hand, Notizblock und Stift liegen griffbereit. Auf dem Schreibtisch steht wahlweise noch ein voller Aschenbecher. Das Cordsakko hängt über der Stuhllehne. So sieht er aus, der Journalist. Oder: So sah er aus. Diese und ähnliche Darstellungen prägten das Bild des Berufsstandes in unzähligen Filmen. Zum Beispiel im kürzlich preisgekrönten Film „Spotlight“. Doch so sieht er heute nicht mehr aus, der Journalist. Abgesehen davon, dass es heute mehr weibliche Vertreter gibt als früher, steht die Kaffeetasse zwar noch da. Aber der Bildschirm ist flach. Statt Stift und Papier liegt häufig ein Tablet daneben. Der Telefonhörer ist immer öfter ein Smartphone. Wenn Telefonieren überhaupt noch nötig ist. Denn vieles wird via E-Mail geklärt, eine Besprechung kann auch über den Instant-Messenger Skype geführt werden.

Der größte Unterschied findet sich aber auf dem Bildschirm: Neben dem Textverarbeitungsprogramm laufen Facebook, Twitter und die Kommentarspalte der eigenen Zeitungs-Webseite im Hintergrund und fordern eine hohe Aufmerksamkeit. Denn die Leserbriefe kommen jetzt digital und zahlreich als Kommentare in den sozialen Medien oder per E-Mail und wollen beantwortet werden. Außerdem benötigt der Journalist mehr als eine Version seiner Texte, denn die Leser der Tablet-Ausgabe und der Webseite wollen schneller zum Ziel kommen als die Leser gedruckter Zeitungen. Außerdem wollen sie viele Bilder sehen. Der Journalist ist also nebenbei immer öfter auch Social-Media-Manager, Bildredakteur und im Idealfall auch Videoproduzent, denn „online“ lebt von Multimedia.

Der Journalismus in Zeiten von Social Media hat sich gewandelt. Das stellt auch Markus Ziener fest. Er ist Professor und Leiter des Fachbereichs für Journalismus und Kommunikation an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Berlin und war Auslandskorrespondent für das Handelsblatt in Washington, Moskau und im Mittleren Osten. „Social Media verändert die Reaktionszeit, die ein Journalist hat, um eine Geschichte zu bearbeiten“, sagt er. Durch die Schnelligkeit des Mediums müsse sehr schnell beurteilt werden, welchen Wert eine Information habe und wie sie verwendet werden soll. Dadurch, dass jeder Nutzer bei Facebook und Co. Informationen ins Netz stellen könne, habe der Journalist zudem seine alleinige Gatekeeper-Funktion verloren. Er sei also nicht mehr derjenige, der entscheide, wann und in welchem Umfang eine Information veröffentlicht werde. Auf seinem Blog „Tichys Einblick“ stellt der Journalist Roland Tichy Ähnliches fest. „Viele Leser googeln besser und schneller als Journalisten, finden bessere Quellen und schreiben das auch. Journalisten haben einen großen Teil ihres Wissensvorsprungs verloren“, schreibt er im Artikel „Warum das Internet gut ist für den Journalismus“.

„Nicht blind einer Masse folgen“

Für das Tempo, mit der sich Informationen im Netz verbreiten, sorgt auch der Trend, Live-Videos bei Facebook oder Twitter zu übertragen. Der Vorteil dabei sei, dass Leser mit hinter die Kulissen des Journalismus genommen werden könnten, sagt Ziener. Die amerikanische Zeitung Washington Post zum Beispiel überträgt Interviews mit herausragenden Persönlichkeiten live, die später gedruckt im Blatt erscheinen. Der Leser bekommt dadurch einen Einblick, wie solche Beiträge entstehen.

„Das, was digital aufgebaut wird, kann nicht kompensieren, was im Printbereich verloren geht.“

Der Trend hat aber nicht nur gute Seiten. Ziener verweist auf ein Ereignis im Sommer dieses Jahres im amerikanischen Minnesota: Ein Schwarzer wurde in seinem Auto von einem Polizeibeamten angeschossen. Seine Freundin auf dem Beifahrersitz filmte das Geschehen – live zu sehen auf Facebook, inklusive der Schmerzensschreie ihres Freundes. Der Konsument erhalte auf diese Weise zwar schnelle Informationen, werde mit diesen aber alleingelassen, sagt Ziener. Statt solche Ereignisse unkommentiert in soziale Netzwerke zu stellen, würde ein Journalist den Kontext recherchieren, sich ein Urteil bilden und die Informationen dann erst entsprechend aufbereitet verbreiten, erklärt Ziener. Ein anderes Beispiel sei die Live-Übertragung eines Häuserkampfes in der irakischen Stadt Mossul gegen die Terrormiliz Islamischer Staat durch den Sender Al-Dschasira. Der Journalismus im Zeitalter von Social Media habe eine besondere Verantwortung gegenüber den Konsumenten. Nur wenn er es schaffe, den „Wust von Informationen“ zu sortieren und die richtige Mischung aus dem Erklären der Nachrichtenlage aufgrund von Fakten und dem Einordnen derselben zu finden, habe Journalismus eine Existenzberechtigung. Der Journalist dürfe nicht einfach „blind einer Masse folgen“, sondern brauche Erfahrung und kritisches Denkvermögen, um mit den Informationen im Netz richtig umzugehen.

Das schreibt auch Tichy und geht besonders auf die Erwartungen der Leser ein: Durch die Möglichkeit, beinahe alle Informationen im Netz selbst prüfen zu können, seien die Leser misstrauischer geworden – und Journalismus deshalb anspruchsvoller. Die Aufmerksamkeitsspanne der Leser sei heute kürzer, sie seien „ungeduldig“. Es brauche deshalb „kreative, schnelle und prägnante Schreiber“.

Auch Online-Journalismus kostet Geld

Diese Anforderungen an den Journalismus im Social-Media-Zeitalter umzusetzen, sei nicht leicht, sagt Ziener. Die traditionellen Medien befänden sich „in einem Teufelskreis“. Die meisten Printmedien hätten große Probleme, ihre digitalen Aktivitäten zu finanzieren, da die gedruckten Auflagen häufig rückläufig seien. „Das, was digital aufgebaut wird, kann nicht kompensieren, was im Printbereich verloren geht.“ Viele Redaktionen bauten Stellen ab. Das führe dazu, dass „immer weniger Leute immer mehr machen müssen“: Online-Seiten, Print-Produkt, Social-Media-Kanäle und im Zweifel noch die App müssten bedient werden. Dabei mache es einen „riesigen Unterschied“, wo die Beiträge platziert werdem: Smartphone, Tablet und Printprodukt verlangten nach einem je eigenen Schreibstil, weil das Leseverhalten jeweils anders sei.

Smartphone-Nutzer beschäftigen sich laut der Zeitschrift Journalist kürzer mit einem Artikel als Zeitungsleser Foto: JESHOOTS (Jan Vašek), Pixabay
Smartphone-Nutzer beschäftigen sich laut der Zeitschrift Journalist kürzer mit einem Artikel als Zeitungsleser

Das Magazin Journalist stellt in seiner Artikelserie „Die Zukunft des Nachrichtenjournalismus“ fest, dass sich Smartphone-Nutzer deutlich kürzer mit einem Artikel aufhalten als Zeitungsleser. Tablet-Ausgaben von Zeitungen hingegen sind wegen des großen Bildschirms und der intuitiven Bedienung via Touchscreen bestens für Multimedia-Inhalte geeignet. Ziener fügt hinzu, dass durch die Anforderungen im Bereich Social Media ein immer größerer Druck entsteht. „Das ist, gelinde gesagt, eine große Herausforderung.“ Er plädiert dafür, sich tragfähige Finanzierungskonzepte für Medieninhalte, vor allem im Internet, zu überlegen: „Die Leute dürfen nicht denken, dass die Arbeit von Journalisten umsonst ist.“ Viele Zeitungen, darunter Die Welt und die Süddeutsche Zeitung, haben bereits Bezahlschranken für einige Online-Artikel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) bietet seit einiger Zeit den kostenpflichtigen Dienst „FAZ PLUS“ an: Anders als im klassischen E-Paper sind alle Artikel multimedial und besonders ästhetisch für mobile Endgeräte aufbereitet.

Leben in der Filterblase

Sorge bereitet Ziener die sogenannte Filterblase in sozialen Netzwerken. „Man nimmt nur noch zur Kenntnis, was die eigene Meinung bestätigt. Es ist unheimlich schwer, an diese Leute mit den Fakten heranzukommen.“ Verantwortlich dafür, dass viele Nutzer sich nur noch unter ihresgleichen bewegen, ist unter anderem der Facebook-Algorithmus. Das soziale Netzwerk registriert, für welche Themen sich der Nutzer besonders interessiert, und zeigt ihm vor allem diese an. „Es gibt Leute, die sich komplett abkoppeln und das auch können, weil sie vom Fernsehen zu YouTube gewechselt sind oder in ihrer Facebook-Filterblase stecken“, sagt Stephan Dörner, Chefredakteur des Online-Magazins t3n.de, im Magazin Journalist. Input von außen, andere Themen und Meinungen, erreichten diese Menschen häufig nicht mehr. Aber nicht nur Facebook ist für die Filterblase verantwortlich. Auch wer sich etwa nur über Blogs informiert, die subjektiv selektierte Informationen verbreiten, wird schnell an einen einseitigen und begrenzten Themenhorizont stoßen. Ziener führt als Beispiele die Anhänger des designierten US-Präsidenten Donald Trump an. Diese habe es nicht gestört, dass er im Wahlkampf von einer falschen Arbeitslosenquote von 42 Prozent im Land gesprochen habe. In Wirklichkeit liege sie bei etwa fünf Prozent. Das Phänomen, dass Tatsachen nicht mehr zu den Menschen durchdringen, sei absurd, sagt Ziener: „Wir leben in einem Zeitalter, in dem sich durch das Internet alles schnell verifizieren lässt. Trotzdem ist es gleichzeitig nicht möglich, Fakten auch als Fakten darzustellen.“

„Verglichen mit anderen erscheint einem Facebook heute beinahe als seriöses Medium.“

Ziener beschreibt außerdem das Problem von Hasskommentaren im Netz. Es sei heute leicht, schnell zu kommentieren. Dadurch und durch die Anonymität sei die Hemmschwelle gesunken. Wer früher einen Leserbrief getippt habe, habe über seine Worte länger nachgedacht: „Bis man ihn geschrieben hat, war oft schon viel Ärger verraucht, und der Ton war deutlich sachlicher.“ Im Netz sei das anders. Es sei „erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit radikale Urteile über einen Autor gefällt werden“, sagt er. Er empfiehlt, sich mit den Kommentatoren auseinanderzusetzen und individuell zu reagieren, wenn das möglich ist. „In dem Moment, in dem man sich auf die persönliche Ebene mit dem Schreiber begibt, nimmt der Furor der Reaktion ab“, ist seine Erfahrung.

Dass Journalisten oft mit Hasskommentaren zu kämpfen haben, zeigt auch das Beispiel von ZDF-Morgenmagazin-Moderatorin Dunja Hayali. Für ihre journalistische Arbeit erhielt sie dieses Jahr nicht nur die Goldene Kamera, sondern auch viel Gegenwind. Mit einem Facebook-Post, in dem sie sich gegen Fremdenhass aussprach, trat sie eine Welle von Hasskommentaren gegen sich selbst los. Die Tochter irakischer Einwanderer wurde mit Kommentaren wie „Flüchtling, dein Name ist schon ekelhaft genug, verlasse unser Deutschland“ oder „Lügenpresse, Lügenfresse“ beschimpft. „Was da gerade abgeht, ist wirklich mit Verrohung von Sprache überhaupt nicht mehr zu beschreiben. Bedrohung, Beschimpfung, Beleidigung, Vergewaltigungswünsche. Keiner hört keinem mehr zu, Worte werden einem im Mund verdreht, aus dem Zusammenhang gerissen“, beschreibt die Journalistin ihre Erfahrungen.

Guter Journalismus gegen Oberflächlichkeit

Der Algorithmus, der für die Filterblase mit verantwortlich ist, führt außerdem dazu, dass sich die Nutzer oft nicht mehr gezielt und bewusst informieren. „Ein großer Teil des Nachrichtenkonsums bei Facebook geschieht zufällig“, analysiert das Magazin Journalist. Auch bei Twitter sei das der Fall. Facebook-Nutzer lesen Artikel, die ihnen in ihrem Newsfeed anzeigt werden – nicht weil sie danach gesucht hätten, sondern weil ein Algorithmus ihnen das so vorschlägt. Bei Facebook entscheidet also nicht mehr der Journalist, ob jemand seinen Artikel überhaupt zu sehen bekommt, sondern das soziale Netzwerk. Hinzu kommt das sogenannte Empfehlungsmarketing: Nutzer empfehlen anderen Nutzern durch soziale Netzwerke Artikel weiter. So sei der New York Times im Jahr 2014 aufgefallen, dass zwar noch genauso viele Leser das Online-Angebot der Zeitung nutzten – jedoch nicht auf die Startseite klickten, auf der alle Themen im Überblick zu sehen sind. Stattdessen gelangten die Leser über Links aus den sozialen Netzwerken direkt auf den Artikel. Auch das trägt zur Filterblase bei.

Ziener beobachtet, dass sich der Trend im Netz zu mehr Oberflächlichkeit hin entwickelt. „Verglichen mit anderen erscheint einem Facebook heute beinahe als seriöses Medium.“ Deshalb bedürfe es eines qualitativ hochwertigen Journalismus. „In der sehr komplexen Welt, in der wir leben, in der vieles kompliziert zu verstehen geworden ist, braucht es einen Journalismus, der die Zusammenhänge erklärt.“ Dem Medienkonsumenten rät Ziener, sich weiterhin auf zuverlässige Quellen zu verlassen. „Das sind nach wie vor die meisten traditionellen Medien. Die Medien, die nicht jedem Trend hinterherlaufen, sondern sich etwas mehr Zeit nehmen, die Informationen zu überprüfen.“ (pro)

Von: Swanhild Zacharias, Social-Media-Redakteurin beim Christlichen Medienmagazin pro

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