Ein Gespenst geht um, und es heißt „Cancel Culture“. Immer mehr erboste Internetnutzer wünschen ihren Gegnern das Ende ihrer beruflichen Existenz und ihres gesellschaftlichen Ansehens. Und immer häufiger ziehen sie siegreich aus der digitalen Schlacht gegen die, deren Meinung sie als so schlimm empfinden, dass sie sie verstummen lassen wollen.
Die Opfer der „Cancel Culture“ einte vor allem: Sie hatten etwas Falsches getan oder gesagt. Diese Woche war das anders. Es traf den Schauspieler Chris Pratt, bekannt unter anderem aus „Jurassic World“ und „Avengers“, einen überzeugten Christen und weithin gefeierten Hollywood-Darling. Wenn Pratt öffentlich etwas sagt, ist er vor allem: nett. Er ist kein Chauvinist, frei von Eskapaden, und gleichzeitig irre erfolgreich, so eine Art Schwiegersohn-Ideal. Was kann jemand wie Pratt also verbrochen haben? Nichts. Und genau das warfen ihm erboste Twitterer nun vor.
Pratts angeblicher Fehlgriff bemaß sich darin, dass er sich nicht explizit für den Demokraten Joe Biden als zukünftigen US-Präsidenten ausgesprochen hatte. Im Zuge eines Twitter-Beliebtheitswettbewerbs wurden immer mehr Stimmen laut, die ihm das Unaussprechliche zutrauten: Dass er womöglich sogar Donald Trump wählen könnte! Beweise dafür gab es nicht, doch die bloße Nicht-Unterstützung für Biden genügte dem Chor der Empörten schon, ihre digitalen Mistgabeln in die Höhe zu recken.
„White dude solidarity“
Bei dieser Gelegenheit konnten sie Pratt auch gleich – wieder einmal – vorwerfen, er hasse Schwule und Lesben. Schließlich gehöre er einer Kirche an, die anti-LGBT sei. Dass Pratt diese Vorwürfe zurückwies, konnte das Feindbild einiger besonders Sendungsbewusster schon vor Monaten nicht erschüttern. Doch der Shitstorm in dieser Woche hat schon eine neue, quasi-religiöse Qualität, von einer Forderung zum klaren Bekenntnis für die reine (also die eigene) Lehre: „Wer nicht für Biden ist, ist gegen ihn.“ Hollywoodstars sprangen Pratt zur Seite, unter ihnen „Iron Man“ Robert Downey Jr.: „Was für eine Welt … Die ‚ohne Sünde‘ werfen Steine auf meinen Bruder, Chris Pratt …“, schrieb er auf Instagram. „Ein echter Christ, der nach Prinzipien lebt, er hat nie etwas anderes an den Tag gelegt als Zuversicht und Dankbarkeit.“ Den „Steinewerfern“ empfahl er, ihre Twitterkonten zu löschen, was von den Pratt-Hassern als „white dude solidarity“ (Solidarität unter weißen Kerlen) etikettiert wurde. Dass die aus der Dominikanischen Republik stammende Schauspielerin Zoe Saldana sich ebenfalls hinter Pratt stellte? Egal.
Pratt selbst hat sich bisher nicht dazu geäußert, wen er wählen will. Das muss er auch nicht. Denn damit würde er einer zunehmend illiberalen Kultur Vorschub leisten, die unter dem Deckmantel einer angeblichen moralischen Überlegenheit alles und jeden niedermacht, der sich ihr in den Weg stellt. Und das ist keinen Deut besser als das rüpelhafte Verhalten des noch amtierenden Präsidenten. Pratt bezeichnet sich als apolitisch, doch laut CNN hat er 2012 dennoch einen Präsidentschaftskandidaten mit einer Spende unterstützt: Barack Obama.