Lisa und Lena, Falco Punch, Chany Dakota – vielen Über- 18-Jährigen sagen diese Namen nichts. In den Kinderzimmern sind sie derzeit aber höchst angesagt. Denn sie alle wurden durch die App TikTok bekannt. Wer bei „TikTok“ eher an einen Türklopfer denkt als an eine Smartphone-Anwendung, hinter musical.ly eine Webseite für Theateraufführungen erwartet oder sein Kind tanzend vor dem Smartphone antrifft, der sei im Folgenden kurz aufgeklärt.
TikTok ist die derzeit beliebteste App der Welt. Bis 2017 hieß sie musical.ly. Dann wurde sie für umgerechnet gut 900 Millionen Euro an den chinesischen Internetkonzern Bytedance verkauft. Seitdem heißt die Anwendung TikTok. Bei der App geht es um sogenannte Lip-Sync-Videos. Das funktioniert ähnlich wie die Mini-Playback-Show der Neunzigerjahre im Fernsehen, nur digital. Wer sich bei TikTok registriert, kann aus einer Fülle von aktuellen Songs aus den Charts auswählen und dazu kurze Playback-Videos aufnehmen, indem die Lippen zum abgespielten Gesang bewegt werden. Außerdem gehört eine Choreografie, also die passenden Bewegungen oder Tänze, dazu.
Das machen Millionen Kinder und Teenager derzeit täglich und stellen diese Videos der TikTok-Welt zur Verfügung. Knapp neun Millionen Downloads verzeichnen die Betreiber für die App auf dem deutschen Markt. Spitzenreiter bei den Nutzerzahlen ist Indien mit fast 120 Millionen Downloads. Der Hype um die App ist auch in Deutschland so groß, dass diejenigen, die nicht mitmachen, auf dem Schulhof fast als Außenseiter gelten. Daten- und Jugendschützern bereitet TikTok jedoch Bauchschmerzen. Im Frühjahr verließen auch die blonden Zwillinge Lisa und Lena, deren Namen mittlerweile auch über die TikTok-Welt hinaus bekannt sind, das Portal. Unter anderem gaben sie Sicherheitsbedenken als Gründe an. Junge Nutzer veröffentlichten ihre Videos oft unüberlegt, ohne zu wissen, wer die Aufnahmen eigentlich sieht, so die Begründung.
Die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen für Kinder und Jugendliche kritisert auch die Organisation Jugendschutz.net. Eigentlich ist TikTok erst für Teenager ab 13 Jahren erlaubt und Unter-18-Jährige müssen laut AGB zur Nutzung das Einverständnis der Erziehungsverantwortlichen haben. Kontrolliert werde das aber nicht, sagt Judith Eckart, stellvertretende Leiterin im Bereich Internetdienste bei Jugenschutz.net. Bei der Registrierung müsse das Alter zwar angegeben werden, die Wahrhaftigkeit der Angabe werde aber nicht überprüft. Ein Zehnjähriger kann sich also einfach als 13-Jähriger ausgeben. Auch eine Einverständniserklärung der Eltern verlange die App nicht, sagt Eckart. Dabei nutzten beobachtbar sogar schon Achtjährige das Programm.
Gefahr von sexueller Belästigung
Eckart verweist vor allem darauf, dass die Voreinstellungen des Dienstes unsicher sind: Das eigene Profil und Inhalte sind öffentlich einsehbar, man selbst durch die Suchfunktion für jeden auffindbar. Jeder könne dem Anwender private Nachrichten schicken, wenn dieser die Einstellungen nicht ändere.
Gerade für junge Nutzer sei das Risiko sexueller Belästigung, der Anbahnung von Missbrauchshandlungen oder das Risiko für Cybermobbing hoch. Das gelte auch für Turnvideos, in denen die jungen Sportler entsprechend knapp bekleidet sind. „Erwachsene Nutzer versuchen, über Kommentare Kontakt zu Minderjährigen herzustellen und die Kommunikation auf andere Dienste wie WhatsApp oder Snapchat zu verlagern“, beobachtet Eckart.
Hochgeladene Videos könnten zudem einfach in anderen Diensten wie WhatsApp geteilt, heruntergeladen und verändert und so in Inhalte umgewandelt werden, die für Mobbing genutzt werden könnten. Suchkombinationen wie „peinlich TikTok“ führten zum Beispiel zu YouTube-Videos, in denen Nutzer bloßgestellt werden.
TikTok selbst biete zwar die Möglichkeit, unangebrachte Inhalte zu melden, die Löschung erfolge aber nicht immer zuverlässig. Von Zeit zu Zeit kläre der Betreiber die Anwender über Pop-up-Fenster zum Thema Mobbing auf. Wenn Nutzer jedoch einen Beitrag meldeten, würden Sie auf kein Beratungsangebot hingewiesen. Positiv: TikTok arbeite an der Verbesserung des Jugendschutzes, sagt Eckart. Immer mehr riskante Hashtags würden gesperrt und bei der Meldefunktion von Beiträgen gebe es jetzt ein Freitextfeld, um die Lage genauer zu erklären, Screenshots könnten als Belege angefügt werden. Eckart empfiehlt darüber hinaus jedoch, dass Eltern die App mit ihren Kindern zusammen einrichten und sie auf Risiken hinweisen.
Der Medienpädagoge Stefan Piasecki sieht die Faszination von TikTok vor allem in der Möglichkeit, selbst mitmachen zu können. „Sich einbringen zu können und zu dürfen, eigene Inhalte zu setzen, kreativ zu sein – das alles sind Eigenschaften, die in der Grundnatur des Menschen liegen und die hier öffentlich ausgelebt werden können“, sagt er. Piasecki ist Professor für Soziologie und Politikwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW. Zuvor hatte er den Lehrstuhl für Soziale Arbeit und Medienpädagogik an der CVJM-Hochschule Kassel inne. Der App steht er nicht grundsätzlich negativ gegenüber, denn Kinder und Jugendliche könnten durch den Umgang damit einiges lernen: „Selektion aus einer Vielzahl möglicher Themen, überlegtes Herangehen und nicht zuletzt auch Selbstkritik.“ Die Nutzer lernten, mit Reaktionen auf ihre eigenen Inhalte umzugehen.
Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer
Gut findet Piasecki die Vielfalt der Themen in den Videos. Viele Nutzer unterlegen die Musik nicht einfach mit Lippenbewegungen und Tänzen, sondern drehen Mini-Geschichten passend zur Musik. Dabei könne es neben Tiervideos und Basteltipps auch um religiöse oder politische Inhalte gehen, sagt Piasecki. Doch „in der Kürze liegt nicht immer die Würze“ und zum Beispiel für politische Debatten sei es fatal, wenn keine Diskussion mehr stattfinde, sondern es nur noch auf vermarktbare Sprüche ankomme. „Medial existent ist der, der in der Talk-Show seine 15-Sekundenstatements ablassen darf“, gibt der Medienpädagoge zu bedenken. Genau diese Fähigkeit werde bei TikTok eingeübt und das sieht Piasecki kritisch.
Das Problem wenig bekleideter Minderjähriger hält Piasecki nicht für zentral. Viel dramatischer empfindet er die geringe Aufmerksamkeitsspanne von Jugendlichen, die durch Apps wie TikTok verstärkt werde. „Die Schulpädagogik der Neunziger beklagte, dass sich Jugendliche kaum mehr länger als fünf Minuten auf eine Sache konzentrieren können. Verantwortlich machte man Videoclips, die damals populär waren. Im Takt von drei bis fünf Minuten bekam man die unterschiedlichsten Welten vorgeführt.“ Durch Angebote wie TikTok verkürze sich die Aufmerksamkeitsspanne noch weiter. In seiner Hochschultätigkeit nimmt er wahr, dass Studierende oft nicht mehr in der Lage seien, einen längeren Text von ein bis zwei Seiten am Stück zu lesen.
Anstatt vor TikTok zu warnen, appelliert Piasecki – wie auch Eckart von Jugendschutz.net – an die Medienkompetenz der Nutzer. Er meint damit im Besonderen die Entscheidungskompetenz. „Die muss immer früher gelehrt werden, schon im Kindergarten, wenn Sie mich fragen“, sagt er. Piasecki geht es darum, schon Kinder über die Unterschiede von Informationen aufzuklären. „Sie müssen wissen, dass es böse Menschen und böse Inhalte dort draußen gibt. Nicht im Sinne von Panzerknacker-böse, sondern von richtig teuflisch böse. Sie müssen lernen, vorsichtig zu sein und Vertrauen zu dosieren. Und damit auch lernen, Inhalte, auf die sie stoßen, abzulehnen, nicht anzusehen.“ Das funktioniere aber nur, wenn man um diese Tatsache wisse und nicht unvermittelt darauf stoße. Für die Pädagogik sei das der schwierigste Teil des Vermittelns, aber Kinder müssten darauf vorbereitet werden. Schon allein deshalb, weil sie auf dem Schulhof der „Das musst du sehen“-Mundpropaganda ausgesetzt seien, bei der die Faszination des Verbotenen überwiege.
Den Betreibern von TikTok traut Piasecki zu, „dass sie wichtige Entwicklungen und Gefahren im Blick behalten“. Viele Entwickler starteten als „Nerds, die zunächt ihre Technologie sehen“. Kämen dann ökonomisch denkende Menschen im Management und Investoren hinzu, folge oft auch das Bewusstsein für die Verantwortung. Eltern rät der Medienpädagoge: „Verbote bringen nichts.“ Stattdessen sollten sie Interesse zeigen und vielleicht sogar mal bei einem Video mitmachen. Auch Eltern im Freundeskreis der Kinder zu kennen und sich mit ihnen auszutauschen, könne helfen, mögliche Gefahren früh zu erkennen.
Tipps für Eltern
Eltern sollten ihre Kinder bei der Internetnutzung altersgemäß begleiten. Das gilt auch für Apps auf dem Smartphone. Bei TikTok empfiehlt die Organisation Jugendschutz.net:
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Informieren Sie sich im jeweiligen App-Shop (zum Beispiel Google Play Store für Android oder App-Store für iOS) über Inhalt und Funktionsweise der App.
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Richten Sie die App zusammen mit Ihrem Kind ein. Legen Sie zum Beispiel gemeinsam die Privatsphäre-Einstellungen fest. So stellen Sie sicher, dass Fremde keinen Zugriff auf das Profil Ihres Kindes haben.
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Unterbinden Sie In-App-Käufe beim Smartphone Ihres Kindes, damit nicht unbedacht Geld ausgegeben wird. Das können Sie im jeweiligen App-Store festlegen.
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Klären Sie Ihr Kind über sicheres Verhalten online auf, damit es zum Beispiel subtil wirkende Risiken wie sexuelle Belästigung als solche einordnen kann. Informieren Sie Ihr Kind darüber, welche Möglichkeiten es gibt, wenn es Opfer eines Übergriffs geworden ist oder mit belastenden Inhalten konfrontiert wurde. Infos zu Sicherheitseinstellungen, Meldesystem und Datenschutz finden Sie auch unter kompass-social.media.
Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2019 des Christlichen Medienmagazins pro. Sie können das Magazin hier bestellen.
Von: Swanhild Zacharias