Es ist ein wunderbarer Sommertag in Rio de Janeiro, genau so wie man sich das Wetter in Brasilien vorstellt. Die Kamera ist auf die Copa Cabana gerichtet. An Rios berühmtestem Strand genießen unzählige braungebrannte Brasilianer die Sonne und das Meer, einige spielen Beachvolleyball. Urlaubsfeeling pur, wäre da nicht die Stimme aus dem Off, die erklärt: „Die idyllische Atmosphäre (…) trügt. Die Stimmung ist extrem angespannt.“ Denn im traumhaften Brasilien ist derzeit der Wahlkampf in der heißen Phase – und dieser ist für viele Bürger ein Alptraum. „In diesem Augenblick versammeln sich die Faschisten dort drüben“, meint ein Wahlhelfer der Arbeiterpartei mit Blick auf die Wahlveranstaltung des rechten Kandidaten Jair Bolsonaro. Das ist jener Mann, der laut Umfragen die aussichtsreichsten Chancen auf das Präsidentenamt hat. Sein Slogan, der in großen Lettern auf einem Wahlkampfauto steht, lautet: „Brasil acima de tudo! Deus acima de todos!“ Auf Deutsch: „Brasilien über alles! Gott über alle!“
„Im größten katholischen Land der Welt bekennt sich jeder dritte Wähler zu einer christlichen Freikirche. Nirgendwo sind Evangelikale so mit der Politik verbunden wie in Rio. Missionieren auf offener Straße gehört zu ihren Markenzeichen“, erklärt ORF-Reporterin Julieta Rudich, während sich die Kamera auf einen kahlgeschorenen Afrobrasilianer richtet, der mit der Bibel in der Hand und in energischem Ton auf Passanten einpredigt. Rudich ergänzt: „Evangelikale bilden keine einheitliche Bewegung. Es sind konservativ-fundamentale Gruppen, die für wortwörtliche Auslegungen der Bibel, antiliberale Werte und Heilsversprechen stehen.“
Diesen Sonntag wählt Brasilien einen neuen Präsidenten. Der Hardliner Bolsonaro, der in seinem Zweitnamen ausgerechnet „Messias“ heißt, wird insbesondere von den Freikirchen unterstützt – eine „unheilige Allianz“ nennt das Sendungsleiterin Christa Hofmann in ihrer Anmoderation. Dass nämlich ein Kandidat der Freikirchen am Sonntag der nächste brasilianische Präsident werden könnte, hat das österreichische Fernsehen dazu bewegt, seine Reporterin Julietta Rudich nach Brasilien zu schicken: für die Dokureihe Weltjournal, die jeden Mittwoch spätabends auf ORF 2 läuft. Entstanden ist eine 30-minütige Fernsehreportage, die in Brasilien zunehmend eine problematische Verquickung von Religion und Politik ausmacht – und das nicht zu Unrecht.
Am Weg zum christlichen Gottesstaat?
Im Land der gigantischen Christusstatue von Rio haben sich die Freikirchen mittlerweile auch politisch als enormer Machtfaktor etabliert. Wie stark religiös aufgeladen auch der aktuelle Präsidentschaftswahlkampf in Brasilien ist, zeigt beispielhaft die Messerattacke, deren Opfer Bolsonaro Anfang September wurde. Der offenbar verwirrte Attentäter „berief sich ebenfalls auf Gott. Er sagte, Gott hätte ihn angewiesen, Bolsonaros Leben zu beenden.“ Bolsonaro überlebt die Attacke schwer verletzt, sein Pastor und Vertrauter, der Parlamentsabgeordnete Magno Malta, begleitet ihn am Krankenbett.
Reporterin Rudich interviewt Malta nur zwei Tage nach dem Attentat, mit Tränen in den Augen sagt er zu ihr: „Als ich in die Intensivstation kam, rief ich seine Söhne. Beten wir, sagte ich. Gott hat sein Leben gerettet. (…) Und dann, noch unter Narkose, öffnete Jair Bolsonaro die Augen.“ Doch diese emotionale Szene sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass der Kandidat ein Hardliner ist, der den Titel „brasilianischer Donald Trump“ nicht ohne Grund erhalten hat. Der 63-Jährige möchte die Strafmündigkeit auf 16 herabsetzen und fordert „den allgemeinen Zugang zu Waffen“, wie es in der Doku heißt: „Brasilien hat jetzt schon eine der höchsten Mordraten der Welt.“ Auch hat er mit Alberto Brilhante Ustra jenen Mann öffentlich gelobt, der die wegen Korruption abgesetzte Ex-Präsidentin Dilma Rousseff zu den Zeiten der brasilianischen Militärdiktatur foltern ließ.
Wie passt so etwas mit christlichen Werten zusammen? Die Kulturanthropologin Christina Vital klärt in der Doku auf: „Die wenigsten Evangelikalen wollen, dass das Alter für Strafmündigkeit herabgesetzt wird oder Waffenbesitz freigegeben wird. Aber im Kongress verbindet sich der Block der Evangelikalen mit anderen Lobbyisten. Und diese befürworten diese Maßnahmen.“
Evangelikal in Brasilien ist etwas anderes als in Europa
Leider vermischt Rudich in der Dokumentation immer wieder die Begriffe „Freikirchen“, „evangelikal“, und „Pfingstler“. Stark verfehlt ist es, Evangelikale im Allgemeinen darüber zu definieren, dass sie für „antiliberale Werte“ stünden. Doch auf Brasilien bezogen hat Rudich mit dieser Einschätzung leider nicht unrecht, wie sich gegen Ende ihrer Fernsehreportage zeigt: „Wir haben Gemeinsamkeiten mit islamischen Ländern, wo der Islamismus die Meinung vertritt, dass der Freiheit Grenzen zu setzen sind, damit sich die Menschen besser orientieren können. (…) Wir wollen strategisch wichtige Stellen besetzen, damit wir im Sinne Gottes die brasilianische Gesellschaft verändern“, sagt der freikirchliche Abgeordnete und Pastor Pedro Ribeiro im O-Ton – und er ist nicht der einzige, der einen christlichen Gottesstaat will.
Spätestens an dieser Stelle sollte es einem als aufgeklärter Christ mulmig zumute werden: Denn offenbar sind freikirchliche Politiker in Brasilien drauf und dran, die Trennung von Kirche und Staat zu unterminieren und wünschen sich stattdessen einen Gottesstaat, in dem sogar der traditionelle Samba verpönt ist. Ein Blick in die Geschichte könnte dabei helfen, diese Politik zu überdenken: Denn bereits bei Kaiser Konstantin war ein christlicher Gottesstaat keine gute Idee, sondern führte schließlich zu einem verkrusteten Amtskirchentum, fernab von der Botschaft des Evangeliums.
Lerne: Evangelikale in Brasilien sind etwas anderes als Evangelikale anderswo auf der Welt. Amerikanische Evangelikale verstehen den Begriff mittlerweile als politisch aufgeladen und distanzieren sich teils davon. In Deutschland ist ein Großteil der Evangelikalen in traditionellen Kirchen, Freikirchen und freien Werken beheimatet. „Schwarze Schafe“, die sich dort an den Rändern des evangelikalen Spektrums tummeln, werden dagegen in Brasilien zur Mitte. Das zeigt die ORF-Reportage am Beispiel des Mannes, der Präsident werden möchte, sehr anschaulich.
Von: Raffael Reithofer