Constanze Grießler und Franziska Mayr-Keber haben für ihre Dokumentation zum Thema Gender, die am Mittwoch um 20.15 Uhr auf 3Sat zu sehen ist, durchaus spannende und hörenswerte Menschen getroffen. Sie begleiten einen Travestiekünstler, der Führungen durch das Kunsthistorische Museum in Wien anbietet und dafür plädiert, dass Menschen sich nicht „zu stark in irgendwelche Rollen drücken“. Er selbst sieht sich als Kunstfigur, will nicht wirklich sein Geschlecht verändern.
„Ich durfte nichts mehr sein“
Anders erging es der österreichischen Skiweltmeisterin von 1966, Erika Schinegger. Heute lebt sie als Erik Schinegger. Er ist 70 Jahre alt, in zweiter Ehe verheiratet und hat drei Enkelkinder. Schinegger ist aber nicht transsexuell. Er wurde als Mann mit nach innen gerichteten Geschlechtsmerkmalen geboren, sodass sein Geschlecht nicht erkannt wurde. In der Pubertät wuchsen ihm keine Brüste, auch die Periode setzte nicht ein. Auch aufgrund des sportlichen Erfolgs drängte man ihn, die Frauenrolle beizubehalten. Für ihn war das alles gespielt.
Als 1967 Chromosomentests für Sportlerinnen eingeführt wurden, kam heraus: Erika ist biologisch ein Mann. Sein Sportverband wollte ihn zu einer Umwandlung zur Frau drängen, er lehnte ab. Mit 19 Jahren wurde aus Erika Erik. Er plädiert heute dafür, dass bei intergeschlechtlichen Menschen wie ihm zunächst kein Geschlecht in die Geburtsurkunde eingetragen wird. Jeder solle sich selbst nach der Pubertät entscheiden können, ob er Mann oder Frau sein wolle. Unter Tränen erinnert er sich an seine eigene Vergangenheit: „Ich wurde mit Füßen und Händen getreten.“ Und weiter: „Ich durfte nichts mehr sein.“
Zu Wort kommt auch die Roller-Derby-Spielerin Katta, die sich weder weiblich noch männlich fühlt. Sie übt in einer Frauenmannschaft einen harten Vollkontaktsport aus. Noch dazu wird die Mannschaft von einem rein männlichen Cheerleader-Team begleitet. Die Sportler wollen nicht nur Sport machen, sondern auch die Frage nach Geschlechterklischees aufwerfen. Katta selbst will bald einen Antrag darauf stellen, dass ihr Ausweis offiziell das dritte Geschlecht beinhaltet. Seit 2017 ist das legal. Katta will auch nicht, dass die Worte Sie oder Er im Bezug auf ihre Person benutzt werden. Der Vorname soll genügen.
Der Film stellt Menschen vor, die ihr Geschlecht haben angleichen lassen: Das Model Giuliana Farfalla etwa, bekannt aus der Sendung „Germany’s Next Topmodel“. Oder Vivienne Ming, Neurowissenschaftlerin und Tech-Unternehmerin, die über Geschlechterungerechtigkeiten berichtet: „Der erste Tag, an dem ich als Vivienne auftrat, war der letzte Tag, an dem mir jemand eine mathematische Frage stellte.“
Wo bleiben die kritischen Worte?
Das alles sind lohnende Perspektiven. Sicherlich tut es auch Christen gut, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die aufgrund ihres Geschlechts Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Sträflich vernachlässigt haben die Macher des Films aber die kritische Perspektive auf das Thema Gendergerechtigkeit. Denn selbstverständlich muss nicht jede feministische Forderung oder jeder Wunsch aus der LGBTQ-Gemeinschaft sinnvoll sein. Als Alibikritiker lässt der Film den Kolumnisten Harald Martenstein auftreten. Der aber gibt sich offenbar weniger erbost über das Thema Gender als im Vorfeld angenommen. Quasi als pro und contra platzieren die Journalistinnen ihn gemeinsam mit Eva Blimliner von der Akademie der Künste in Wien. Doch beide stellen am Ende des Films fest, dass sie sich zu 80 Prozent einig sind.
Martenstein hält eine Debatte über eine dritte Form der öffentlichen Toilette zwar für Quatsch und beschwert sich über eine „Kultur des Beleidigtseins und sich bei jeder Gelegenheit unterdrückt Fühlens“. Das sind aber die einzigen kritischen Worte, die im ganzen 52-minütigen Film Raum finden. Viel wäre zu sagen gewesen über die mal sinnvolle, mal weniger sinnvolle Arbeit von Genderzentren, seien sie politisch oder innerkirchlich. Viel wäre auch zu sagen gewesen über die Frage, inwieweit auch der Feminismus in extremen Ausprägungen problematisch sein kann. Oder darüber, dass auch das Gendern in Rollen zwängen kann – indem es klassische Stereotype ächtet.
So praktiziert die Dokumentation das, was gerade Befürworter gendergerechter Umstrukturierungen an ihren Gegnern kritisieren: Einseitigkeit, das Ausblenden der gegenseitigen Perspektive und die Verunglimpfung Andersdenkender. So stempelt ausgerechnet der Chefredakteur des Playboy Deutschland, Florian Boitin, diejenigen, die „sich in ihren Werten angegriffen fühlen“, als „Fundamentalisten“ ab. Freilich kurz nachdem er das öffentliche Entblößen als fortschrittlich und den Selbstwert fördernd gelobt hat.
Von: Anna Lutz