PRO: Erst Corona, jetzt Ukraine-Krieg und Angst: Die Deutschen sind in Schockstarre und blicken so wenig hoffnungsvoll in die Zukunft wie seit Jahrzehnten nicht. Woher kommt diese lähmende Angst?
Bianca Fuchs: Angst ist etwas Grundlegendes, das in uns Menschen liegt. Wenn wir mit etwas Schlechtem konfrontiert sind, haben wir drei Möglichkeiten, zu reagieren: Ich fliehe, ich kämpfe oder ich werde ohnmächtig. In der aktuellen Situation fallen schon zwei Optionen raus: Vor den Nachrichten kann ich nicht flüchten, ich bin überall damit konfrontiert. Kämpfen kann ich auch nur in einem bestimmten Maß. Dann bleibt nur die Ohnmacht.
Corona und Krieg sind wir nicht gewohnt – so gut das ist. Wir wissen nicht damit umzugehen, und das greift alle Lebensbereiche an. Hinzu kommt der Gedanke: Ich kann nichts tun. Ich habe keinen Einfluss darauf. Immer dann, wenn wir keinen Handlungsspielraum mehr wahrnehmen, werden wir unsicher und verfallen in diese Schockstarre.
Wie gehen die unterschiedlichen Generationen mit der derzeitigen Kriegsangst um?
Jugendliche und Kinder sind sehr von Einzelschicksalen mitgenommen. Sie können nicht erfassen, welches Ausmaß die derzeitige Situation hat. Die Bilder von leidenden und fliehenden Eltern mit Kindern lösen eine empathische Angst aus, weil es ihnen auch so gehen könnte. Erwachsene haben eine größere Perspektive. Somit ist auch die Angst eine andere. Damit gehen Fragen einher wie: Was passiert mit unserer Gesellschaft? Was passiert mit Europa? Was passiert mit der Welt, wenn es weiter eskaliert?
Wie kann ich aus dieser Spirale der Angst herauskommen und einen anderen Blickwinkel bekommen?
Das Wichtigste ist, dass wir an uns selber wahrnehmen: Wodurch komme ich in eine Angstspirale. Ich sollte mir das bewusst machen und eingestehen: Das macht mir Angst und das ist auch in Ordnung, das darf es. Aber dann sollte ich mich bewusst dazu entscheiden, mich nicht von der Angst kontrollieren zu lassen, sondern bewusst etwas anderes zu tun.
Bianca Fuchs arbeitet als Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im DRK Krankenhaus Altenkirchen-Hachenburg. Zudem führt sie eine private Praxis. Sie engagiert sich ehrenamtlich in ihrer Ortsgemeinde und in dem überkonfessionellen christlichen Verein Aglow International Deutschland.
Welchen Einfluss hat permanenter Medienkonsum auf Angst- und Ohnmachtsgefühle?
Bedenklich ist Medienkonsum immer dann, wenn er meine Ohnmacht bestärkt. Es ist wichtig, sich zu informieren. Aber gleichzeitig sollten wir wieder mehr lernen, zu kontrollieren, wo und wie wir mediale Inhalte konsumieren. Wenn ich merke, es geht mir mit den bewegten Fernsehbildern von zerstörten ukrainischen Städten nicht gut, ich komme abends nicht zur Ruhe und kann damit schlecht schlafen, kann ich mich dazu entscheiden, Nachrichten in der Zeitung oder online zu lesen.
Ich muss mich nicht diesen Bildern aussetzen. Das bedeutet nicht, dass ich mich vor der Realität verschließe. Es geht um eine Art Selbstschutz: gleichzeitig informiert zu sein und sich dennoch nicht von den Medien kontrollieren zu lassen.
Besonders in Sozialen Medien besteht die Gefahr, immer wieder die gleichen Inhalte vorgeschlagen zu bekommen, sodass letztlich auch kein objektives Bild mehr entsteht. Es ist wichtig, sich nicht einfach treiben zu lassen, sondern sich bewusst zu entscheiden: Ja, ich möchte jetzt Nachrichten sehen und ich informiere mich. Aber ich schalte anschließend auch wieder bewusst ab.
Sind Kinder im Haushalt, die gefährdet sind, wenn sie Kriegsbilder sehen, dann entscheide ich mich bewusst dafür, sie den Inhalten mit meinem Medienkonsum nicht auszusetzen.
Wie kann jeder, dem der Krieg Angst macht und in eine Schockstarre versetzt, eine positive Veränderung im Alltag schaffen?
Ich empfehle etwa, den Medienkonsum aus dem Abend herauszunehmen. Denn aufgrund verschiedener zusammenspielender Hormone nehmen wir die Dinge abends als noch schlimmer wahr. Deshalb ergibt es auch übrigens keinen Sinn, abends zu streiten, weil wir die Dinge überbewerten und nicht dazu in der Lage sind, wirklich rational zu denken. Die Tagesschau um 20 Uhr ist eigentlich gegen einen gesunden Tagesrhythmus.
Möchte ich mich informieren, empfiehlt es sich, das in meiner Mittagspause oder am Nachmittag zu tun. Sich selbst eine Zeitbegrenzung beispielsweise von 30 Minuten zu setzen, ist sinnvoll. Auch Aktivierung hilft super gegen Angst. Das heißt: Spazieren gehen, etwas tun, was persönlich Freude bereitet, Gärtnern, Nähen, frische Luft, Sonne, Bewegung.
Wenn jemand singt, funktioniert übrigens das Angstzentrum nicht. Und wer ganz akut das Gefühl hat, er werde in die Angst hineingezogen und schafft es gerade nicht, da rauszukommen, kann Kaugummi kauen.
Warum?
Unserem Körper ist klar, wenn ich Angst habe, dann muss ich mich verteidigen oder weglaufen. Wenn ich ihm aber das Signal gebe, ich esse jetzt – und da reicht schon das Kaugummikauen – wird dem Gehirn mitgeteilt: Die Situation kann nicht so schlimm sein, sonst würde ich jetzt nicht essen.
Welche Möglichkeiten gibt es, die eigene Resilienz zu stärken?
Resilienz ist so ein großes Wort, aber es ist nichts anderes als unsere psychische Abwehr. Dazu gehört, dass ich Menschen in meinem Umfeld habe, mit denen ich ehrlich über meine Sorgen und Gefühle sprechen kann. In manchen Fällen kann das auch ein Therapeut sein. Für Resilienz ist immer hilfreich, einen strukturierten Tagesablauf zu haben, in Bewegung zu bleiben, regelmäßiges Essen.
Vieles, das meinem Immunsystem gut tut, hilft auch meiner Resilienz. Auch der Glaube stärkt die Resilienz, das Wissen über Gott, der alles in der Hand hält, und die größere Perspektive über unsere Welt hinaus. Weil es Hoffnung schenkt in der Situation, die menschlich hoffnungslos scheint. Das hilft, die Dinge in ein neues Licht zu setzen. Deshalb ist es dann leichter, mit Krisen umzugehen.
Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
Ich werde oft gefragt: Wie kannst du denn noch glauben, wenn junge, unschuldige Menschen sterben oder – wie jetzt – ein Krieg ausbricht? Ich frage mich: Wie kann ich denn dann nicht glauben? Der Glaube gibt mir die Hoffnung, dass trotz allem jemand alles in der Hand hält und Gott mir eine Perspektive und eine Hoffnung schenkt.
Das bedeutet nicht, dass ich diese schlimmen Geschehnisse deshalb verstehe. Vielleicht bekomme ich auch nie eine Antwort auf meine Warum-Frage. Aber ich weiß, dass ich sie stellen darf und ich in dem Ganzen trotzdem gehalten bin.
Das hilft auch, um mit der Kriegssituation und der Angst umzugehen?
Es ist immer schwierig, wenn Menschen leiden. Das ist die große Glaubensfrage: Wenn Gott gut und allmächtig ist, warum leiden dann Menschen? Auf diese Fragen gibt es keine Antwort. Und trotzdem ist Gott gut. Es ist eine Entscheidung, das zu glauben. Und es ist eine Entscheidung, sich darauf zu fokussieren, dass es etwas Größeres gibt als das, was ich jetzt verstehe.
Für mich persönlich steht dieser Entscheidung eine Hoffnungslosigkeit gegenüber. Das ist für mich keine Option. Ohne Hoffnung, egal worauf, ist es schwer zu leben und es ist auch sehr schwer, mit diesen Nachrichten umzugehen. Wenn ich keine Hoffnung und Perspektive habe, kann ich nur ohnmächtig sein.
Ganz konkret finde ich es absolut erstaunlich zu sehen, wie viel Nächstenliebe, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft gerade da ist, die häufig auch motiviert sind aus einem Glauben an Gott und einem Ja dazu, dass ich für meinen Nächsten da sein darf und soll.
Der Präses des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, Ansgar Hörsting, sprach kürzlich in einer Predigt über den Krieg in der Ukraine. Im Rahmen dessen sagte er auch sinngemäß: „Es nützt keinem, wenn ich die ganze Zeit nur negativ bin. Gott ruft mich in seine Freude. Er hat uns zur Freude berufen.“ Wie sehen Sie diesen Satz aus psychologischer Sicht?
Wenn wir uns die Dinge bewusst machen, für die wir dankbar sind, geht es uns besser. Das würde ich sofort unterschreiben. Die Dinge, auf die ich mich fokussiere, prägen mich. Wenn ich mich darauf fokussiere: Die Welt ist schlecht, der Krieg ist ganz schlimm, es gibt Corona und noch genug andere Nachrichten – dann werde ich in diese negative emotionale oder auch Angst-Spirale hineingezogen.
Wenn ich mich aber darauf konzentriere: heute hat die Sonne geschienen und ich hatte eine schöne Begegnung mit einem Menschen – dann kann ich das als Geschenk Gottes wahrnehmen und sagen, er beruft mich dazu, Freude zu empfinden. Das funktioniert aber auch ohne diese Glaubens-Perspektive.
Ich rate fast allen meinen Patienten: Schreibe dir am Abend drei Dinge auf, für die du dankbar bist oder die heute schön waren. Das fördert unser Wohlbefinden. Unser Blick auf die Welt wird dadurch viel positiver. All das, womit ich mein Herz füttere, hat Einfluss auf mein Leben. Es gibt auch den Vers in der Bibel: „Mehr als alles hüte dein Herz, denn von ihm geht das Leben aus.“ Das ist aus psychologischer Sicht auf jeden Fall richtig.
Frau Fuchs, vielen Dank für das Gespräch!