Amsterdam. Ein Traum von einer Stadt. Die schmalen, mit schmuckvollen Fassaden verzierten Häuser, die sich an die Grachten schmiegen. Alte Kontore, die vom Reichtum zeugen, den die Schiffe aus aller Welt in die Niederlande importierten. Blühende Fassaden, Blumenbeete mit Tulpen in allen erdenklichen Farben und Formen. Gemütliche Cafés an jeder Ecke.
Das ist die eine, die schöne Seite. Amsterdam hat auch eine andere. Da sind die Drogenabhängigen, die aus den Coffeeshops torkeln.
Und da ist das Rotlichtviertel.
Ich kannte die Geschichten von den Prostituierten, die sich in Schaufenstern den Touristen präsentieren (müssen). Doch die tatsächliche Erfahrung geht unter die Haut. Du schlenderst mit deinem Sohn an einer Gracht entlang, biegst in ein schmales Seitengässchen ein, und stehst mir nichts, dir nichts mitten im Milieu.
Frauen, mehr oder weniger nackt, bieten sich an. Männer: Alte, junge, betrunkene, stinkende, begaffen die Frauen. Benutzen, bezahlen, fertig. Mein Sohn und ich schauen uns an. Uns bewegt die gleiche Frage: Und wenn es meine Töchter oder seine Schwestern wären? Da erzähle einem keiner was von selbstbestimmter Sexarbeit.
Wir biegen ums nächste Eck. Und stehen vor dem Haus der Heilsarmee (auf Niederländisch „Leger des Heils“). Mitten im Rotlichtviertel gibt es hier einen Ort, an dem Frauen, die für schnellen Sex ausgebeutet werden, einfach Mensch sein dürfen.
Einsatz für jüdische Kinder
Initiatorin dieser Arbeit war Majorin Alida Bosshardt (1913-2007). Ihre Biografie habe ich vor mehr als 30 Jahren gelesen, während meines Zivildienstes bei der Heilsarmee in Hamburg. Hier begegnet es mir wieder. In Amsterdam steht das Buch im Schaufenster des Bookshops direkt neben dem Tagebuch der Anne Frank. Zwei inspirierende Frauen, die fast zur gleichen Zeit am gleichen Ort gelebt haben.
Alida Bosshardt, geboren 1913, Anne Frank 1929. Alida Bosshardt, die 1932 Heilsarmeeoffizierin wurde, setze sich für jüdische Kinder ein, versorgte sie mit Lebensmitteln, wurde verhaftet, entkam, und wirkte eine Weile im Untergrund.
Nach 1945 begann Majorin Boshardt ihren Dienst im Rotlichtviertel „Waletjes“ mitten in Amsterdam. Sie begann Weihnachtsfeiern für die Frauen auszurichten, eröffnete eine tägliche Anlaufstätte. Vielen Frauen half sie beim Ausstieg.
Beatrix in Heilsarmee-Uniform
Majorin Bosshardt ließ auch keine Gelegenheit aus, Öffentlichkeit herzustellen. Für große Aufmerksamkeit sorgte 1965 der Besuch der Prinzessin und späteren Königin Beatrix, die mit ihr gemeinsam in Heilsarmeeuniform zu den Frauen ging. Auch schrieb sie immer wieder Artikel über ihre Arbeit.
Kurz vor ihrem Ruhestand erschien ihre Geschichte über die Arbeit der Heilsarmee auf Englisch: „Here is my hand“. Heute kann man das Buch nur noch antiquarisch finden, mich hat es seinerzeit inspiriert. Und das Vermächtnis dieser Frau bleibt bis heute. Denn leider hat sich ihre Aufgabe, hinter die Fassaden Amsterdams zu blicken und den (Zwangs-)Prostituierten zu helfen, auch 16 Jahre nach ihrem Tod nicht erledigt …
Uwe Heimowski ist Leiter der christlich-humanitären Hilfsorganisation Tearfund. An dieser Stelle schreibt er einmal im Monat darüber, was er mit Menschen aus aller Welt erlebt.