„Machtmissbrauch ist in Freikirchen häufiger“

Martina Kessler ist von der Evangelischen Allianz beauftragt, Fällen von Machtmissbrauch in Gemeinden nachzugehen und zu vermitteln. PRO hat sie nach ihren Erfahrungen gefragt.
Von Anna Lutz
Martina Kessler engagiert sich als Clearing-Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) gegen religiösen Missbrauch

PRO: Frau Kessler, was ist geistlicher Missbrauch?

Martina Kessler: Ich spreche lieber von religiösem Machtmissbrauch. Den Geist Gottes kann man nicht missbrauchen, Religion aber schon. Nun zur Definition: Machtmissbrauch liegt dann vor, wenn ich jemanden dazu bringe, etwas zu tun, was er ohne meine Macht in seinem Leben nicht tun würde, und wenn diese Macht dazu genutzt wird, etwas gegen den Willen der Person durchzusetzen. Bei religiösem Machtmissbrauch nutzt man religiöse Inhalte, um diese Macht auszuüben. Nehmen wir das Beispiel Spenden: Jemand wird dazu gebracht, an eine Organisation zu spenden, weil er dann angeblich besonders gesegnet sei. Das würden wir religiösen Machtmissbrauch nennen.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Der Pastor sagt: „Zieh nicht vor der Ehe mit deinem Partner zusammen, denn die Bibel sagt das so.“ Ist das schon Machtmissbrauch?

Das kommt darauf an, was die Gemeinde des Pastors als Regeln und Maßgaben der Bibel verstanden zu haben glaubt und gemeinsam festgelegt hat. Steht in den Gemeindestatuten, dass es als unbiblisch erachtet wird, wenn unverheiratete Menschen zusammenleben? Dann ist es kein Missbrauch, sondern einfach eine Regel, die in der Gemeinde so gilt und die man als Teil der Gemeinde akzeptieren muss. Wichtig ist nur, dass man diese Regeln bestenfalls schon aufgestellt hat, bevor der erste Fall auftritt, bei dem sie abgerufen werden müssen. Das ist leider gerade bei diesen Fragen der Sexualität oft nicht der Fall.

Also nochmal: Wenn es eine solche Regel nicht schriftlich gibt, der Pastor sie aber an ein Gemeindemitglied heranträgt – dann ist das Machtmissbrauch?

Ich kann zumindest verstehen, dass es dann so gedeutet wird. Auf jeden Fall sollte man spätestens dann miteinander reden: Welche von uns aus der Bibel abgeleiteten Regeln sollen für diese christliche Gemeinde gelten? Zumindest gibt es in der Bibel dafür Belege, die man nicht leichtfertig über Bord werfen kann. Und wenn sich ein Pastor darauf bezieht, dann ist das keine Willkür, sondern seine Ausgangsbasis – auch, wenn es vielleicht unpopulär ist. Anders wäre es, wenn es in der Bibel keine Aussagen zu einem Thema gibt. Dann würde die Forderung des Pastors jeglicher Grundlage entbehren.

Kann es nicht Regeln geben, die auch dann schwierig sind, wenn sie als solche festgelegt sind?

Der Gesetzgeber hat religiösen Gemeinschaften das Recht eingeräumt, eigene Regeln für das Zusammenleben festzulegen. Was in meinen Augen aber eher nicht geht, ist zum Beispiel, dass sich einzelne Personen darin als besonders wichtig hervortun und sich selbst mehr Macht zugestehen als anderen. Da sind die Bahnen für Missbrauch dann schon gelegt. Ein Beispiel: Eine Gemeindeleitung will die Hauskreisarbeit umstrukturieren. Ein Teil der Gemeinde wehrt sich dagegen. Die Leitung aber setzt ihren Willen durch mit dem Argument: Das ist der Wille Gottes. Dann würde ich das religiösen Machtmissbrauch nennen. 

Hillsong Foto: Michael Saechang | CC BY-ND 2.5 Generic
Die evangelkale Gemeinde Hillsong steht wegen Machtmissbrauchs in der Kritik

Sie gehören seit 2015 zum „Arbeitskreis religiöser Machtmissbrauch“ der Deutschen Evangelischen Allianz. Wieviele Fälle von religiösem Machtmissbrauch haben Sie in dieser Zeit betreut?

Wir haben etwa 25 bis 30 Fälle im Jahr. Anfangs war ein Drittel davon tatsächlicher Machtmissbrauch, ein Drittel waren Versuche, Macht gegen andere durchzusetzen und ein Drittel der Eingaben kam von Menschen, die psychisch krank waren und anderweitig Hilfe brauchten. Mittlerweile ist der letzte Teil weggefallen und es teilt sich halb-halb auf. Wir müssen immer sehr aufmerksam schauen, ob es sich bei unseren Fällen wirklich um Missbrauch handelt, oder ob uns jemand benutzen will, um seine eigene Macht durchzusetzen.

Wie finden Sie heraus, was von beidem der Fall ist?

Oft wird es dann klar, wenn wir die Gegenpartei kontaktieren. Wenn diese mit großem Bedauern und Betroffenheit reagiert und eventuell wenig überrascht darüber ist, wer sich über uns an sie gewandt hat, dann ist meist offensichtlich: Hier gibt es bereits länger Streit und Machtkämpfe. Mir ist es aber auch schon passiert, dass die Gegenpartei mich ausgelacht hat, so nach dem Motto: „Was, ich soll meine Macht missbraucht haben? Was für ein Witz!“ Dann ist doch recht augenscheinlich, dass da tatsächlich etwas dran sein könnte.

Haben Sie den Fall der Hillsong-Gemeinden in Deutschland verfolgt? In dem Podcast „Toxic Church“ wird der Gemeinde vorgeworfen, ehrenamtliche Mitarbeiter auszubeuten, sie über alle Maßen zu strapazieren, psychologischen Druck auszuüben, auch was Spenden angeht. Hillsong arbeitet auch mit lokalen Allianzverbänden zusammen. Was sagen Sie zu dem Fall?

Die Evangelische Allianz in Deutschland ist kein Zusammenschluss von Kirchen und Gemeinden. Einzelne Gemeinden bringen sich freiwillig in der örtlichen Evangelischen Allianz ein, im Sinne eines losen Verbundes. Die Allianz kann auf einzelne Gemeinden keinen Einfluss über Mitgliedstrukturen ausüben, weil es diese nicht gibt. Wir können niemanden ausschließen. Wir haben allein die Möglichkeit, mit den Menschen ins Gespräch zu gehen. Und wir arbeiten immer einzelfallbezogen. Wenn jemand sich an uns wendet, und wir von der Person beauftragt werden, suchen wir im Sinne einer Mediation den Kontakt zur Gegenpartei. Im Fall Hillsong ist das meines Wissens nicht vorgekommen, deshalb gab es da keinen Handlungsbedarf.

Wie geht die Allianz vor, wenn sich jemand an sie wendet?

Wir versprechen den Leuten auf der Homepage der Allianz drei Gespräche. Dann hören wir zuerst einmal gut zu! Wir sind auch geneigt, die Erlebnisse der Menschen mit kritischer Distanz zu glauben. Dann ist entscheidend, welchen Auftrag wir von den Betroffenen bekommen. Manche wollen einfach, dass ihnen jemand zuhört. Einmal wollte eine Person nur jemandem aus dem Verband ihre persönliche Sicht zu den Vorfällen mitteilen. Das geschah, der Prozess war zu Ende und die betroffene Person zufrieden. Andere möchten, dass wir mit der Gegenpartei in Kontakt treten. Das werden wir dann tun. Das ist dann meistens das zweite Gespräch. Aus diesem Gespräch geben wir dann die Inhalte und Reaktionen an die Person zurück, die uns beauftragte. Gemeinsam überlegen wir dann, was klug und sinnvoll ist. Manchmal enden die Gespräche hier. Manchmal kommt es aber auch zu mindestens einem weiterführenden Gespräch. In der Regel geht es dann individuell weiter.

Gibt es einen Faktor, der freikirchliche oder evangelikale Gemeinden anfälliger für religiösen Machtmissbrauch macht als landeskirchliche oder gar katholische Gemeinden?

Machtmissbrauch gibt es in jeder Form von Kirche. Religiöser Machtmissbrauch ist in jenen Gemeinden wahrscheinlicher, in denen die Menschen besonders danach streben, Gott zu suchen und ihr Leben nach ihm auszurichten. Wenn der Wille, im Glauben zu wachsen, auf Personen trifft, die das ausnutzen, dann kann Missbrauch stattfinden. Daher: Ja, religiöser Machtmissbrauch geschieht in meinen Augen häufiger in freikirchlichen und evangelikalen Gemeinden. Der Grund dafür liegt manchmal auch in Strukturen.

Sie haben im Vorgespräch erwähnt, dass Sie selbst von geistlichem Missbrauch betroffen waren. Möchten Sie Ihren Fall erzählen?

Mein Mann und ich befanden uns in einer Gemeindesituation, in der eine Person gegen uns intrigierte. Sie war uns hierarchisch gleichgestellt, aber sie hat ihre Kommunikation mit anderen dazu genutzt, um Menschen gegen uns aufzubringen, vermutlich aus Neid oder Missgunst. Man würde heute sagen, wir wurden gemobbt. Aber in der Situation habe ich das nicht durchschaut. Das hat mich damals derart beeinträchtigt, dass ich mich nach und nach immer wertloser gefühlt habe, bis hin zu suizidalen Einstiegsgedanken. Ich hatte das Gefühl: Ich bin gänzlich falsch. Ich habe schließlich Seelsorge in Anspruch genommen und die Dinge aufgearbeitet. Und wir haben die Gemeinde gewechselt.

Haben Sie Ratschläge für Gemeindeleitende? Wie können sie verhindern, dass in ihren Gemeinden Machtmissbrauch passiert?

Transparenz in strukturellen Fragen ist wichtig, überhaupt eine gut organisierte Struktur, die die Gemeinde einbezieht. Ich empfehle Gemeindeleitenden eine regelmäßige Supervision. Sie müssen auch mit Kritik umgehen können und sie nicht abtun, lernbereit sein, Veränderungen zulassen. Wenn ich es zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Ich halte eine basisdemokratische Struktur für gut, in der die Gemeinde selbst, also die Mitglieder, das Hauptkontrollorgan ist. Das ist in vielen freikirchlichen Gemeinden so, aber nicht in allen. Manchen Pastoren ist es zu mühsam, immer die Gemeinde zu fragen. Und ja, es ist auch ein schwerfälliges Konzept. Aber eines, das Machtmissbrauch gut vorbeugt.

Wer hilft Betroffenen, an wen können sie sich wenden?

Ich empfehle jedem, der Machtmissbrauch erlebt hat, Seelenhygiene zu betreiben, etwa mithilfe von Seelsorgenden. Menschen erleben Machtmissbrauch nicht, weil sie irgendwie schräg sind, auch wenn sie das oft selbst denken. Tatsächlich geschieht Missbrauch oft den besonders starken Persönlichkeiten und weil es missbrauchenden Menschen gelingt, die Stärken einer Person in ihr Gegenteil zu kehren.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview ist zuerst im Christlichen Medienmagazin PRO erschienen. Bestellen Sie PRO kostenlos hier.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen