„Freiheit“, kritzelte Sophie Scholl zwei Mal in Druckbuchstaben auf die Rückseite eines Briefes. Auf der Vorderseite hatte der nationalsozialistische Oberreichsanwalt ihr in gestelztem Beamtendeutsch mitgeteilt, dass die Anklageschrift gegen die Köpfe der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ fertig sei. Noch kurz vor ihrer Hinrichtung 1943 ließ die Studentin keinen Zweifel daran, worum es ihr mit ihren Aktionen ging. Zu sehen ist das Schriftstück – zusammen mit einem Tanzkleid der Widerstandskämpferin – derzeit in Worms bei der Sonderausstellung „Hier stehe ich – Gewissen und Protest“ im städtischen Museum Andreasstift.
Die Stadt Worms, das Land Rheinland-Pfalz und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau feiern in diesem Jahr ein historisches Jubiläum: Vor 500 Jahren, im April 1521, hatte der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther sich auf dem Wormser Reichstag trotz Gefahr für Leib und Leben geweigert, seine Schriften zu widerrufen. Die Gedanken der Reformation konnten danach nicht mehr erstickt werden.
Mit der Landesausstellung im Jubiläumsjahr soll nun nach fast fünfjähriger Vorbereitungszeit ein Bogen vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart gespannt werden. Denn immer wieder in der Geschichte gab es Menschen, die nicht vor einem Konflikt mit der Obrigkeit zurückschreckten, weil sie sich von ihrem Gewissen leiten ließen. Die Macher der Ausstellung hätten nun zahlreiche weitere „David-gegen-Goliath-Konstellationen“ zusammengetragen, erläutert Kurator Olaf Mückain.
Luthers Reisewagen und Nelson Mandelas Bibel
Bei den Planungen sei klar gewesen, dass die Ausstellung mit Luther beginnen müsse, sagt die Historikerin Katharina Kunter, die das Konzept für die Schau erstellte: „Das ist ja auch das, was die Besucher erwarten.“ Riesige Schautafeln, Touchscreens mit Audio- und Videoinformationen berichten zusammen mit Exponaten wie einem Nachbau von Luthers Reisewagen vom Besuch des Reformators in Worms. Der Reichstag sei sicherlich „die einzige welthistorische Szene seines Lebens“, ergänzt Thomas Kaufmann, Kirchengeschichtler und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Ausstellung. Von der Verteidigungsrede sei eine nicht zu überschätzende Signalwirkung
ausgegangen.
So berief sich noch mehr als 400 Jahre nach dem Wormser Reichstag der amerikanische Bürgerrechtlicher Martin Luther King, der die Erinnerung an den Reformator schon im Namen trug, auf dessen Reichstagsbesuch. Nachdem er 1963 bei einer Demonstration für die Rechte der Schwarzen verhaftet worden war, schrieb er aus seiner Zelle heraus einen 21-seitigen Brief, in dem er sich auf Luthers Wormser Rede berief.
Wenige Vitrinen weiter ist die Bibel aus dem Haus des südafrikanischen Freiheitskämpfers Nelson Mandela und seiner Frau Winnie zu sehen. Schergen des Apartheid-Regimes schnitten aus ihr bei einem Einbruch zur Abschreckung die Umrisse einer Waffe heraus. Die Zivilcourage von Deutschen aus der jüngeren Vergangenheit wird am Beispiel von DDR-Bürgerrechtlern und des christlichen „Eisenberger Kreises“ um Thomas Ammer verdeutlicht. Auch der CDU-Politikerin Elisabeth Schwarzhaupt, die in der Nachkriegszeit gegen Widerstände der Kirche und der eigenen Partei für die rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen kämpfte, ist ein Abschnitt gewidmet.
Eigentlich hätte die Ausstellung bereits im April zum Jahrestag des Luther-Besuchs eröffnet werden sollen. Wegen der Corona-Krise waren zeitliche Verzögerungen jedoch unvermeidbar. Der für Museen zuständige Wormser Bürgermeister Hans-Joachim Kosubek freut sich dennoch über die überregionale Aufmerksamkeit für seine Stadt. „In Worms wurde Weltgeschichte geschrieben“, sagt er stolz. Mit der Entdeckung des Gewissens sei der Mensch zum Individuum geworden.
Die Ausstellung „Hier stehe ich – Gewissen und Protest“ ist vom 3. Juli bis zum 30. Dezember täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu besichtigen. Eine Eintrittskarte für Erwachsene ohne Ermäßigung kostet neun Euro. Es gibt es umfangreiches Begleitprogramm.
Eine Antwort
„Immer wieder in der Geschichte sind mutige Menschen Konflikte mit der Obrigkeit eingegangen, weil sie sich von ihrem Gewissen leiten ließen.“
Würde Luther heute seine Thesen verbreiten, würde man ihn wohl einen „gefährlichen Schwurbler“ nennen und vom Verfassungsschutz beobachten lassen. Es scheint als habe die Obrigkeit ihr Verhalten gegenüber Abweichlern seit damals nicht geändert.