Die Filmemacherin Elke Lehrenkrauss kennt schon seit Kindheitstagen die Wohnmobile, die an der waldgesäumten Bundesstraße in ihrer Heimat Gifhorn stehen und in denen Prostituierte arbeiten. Doch in den vergangenen 20 Jahren hat sich etwas verändert, sagt sie gegenüber dem Christlichen Medienmagazin pro. Waren es früher noch überwiegend deutsche Frauen, leben dort heute fast nur noch Frauen aus Osteuropa und Afrika.
Für Lehrenkrauss lag nahe, dass Ausbeutung im Spiel ist. Sie beschloss daher, einen Film zu drehen. Ein Jahr dauerte die Recherche, zwei Jahre die Dreharbeiten. An 65 Drehtagen war sie mit ihrem Team vor Ort. Herausgekommen ist „Lovemobil“, ein Film, der durch beklemmende Nähe, erschütternde Lebensgeschichten und eine bildgewaltige Melancholie besticht. Dabei ist der Filmemacherin wichtig: „Lovemobil“ ist ein Film, keine Reportage. Die Filmcrew behandelte die Prostituierten als Teil des Produktionsteams, auch wenn ihre Arbeit und ihre Identität freilich echt sind. Das schaffte Vertrauen – und eröffnet dem Zuschauer Einblicke in einen Alltag, der für viele Menschen weit weg ist.
„Lovemobil“ begleitet die beiden Prostituierten Rita und Milena. Und Uschi, der die Wohnwagen gehören, in denen die Frauen arbeiten. Die Frauen müssen immer im Fonds sitzen, wo die bunten Lichterketten blinken. Warten. Auf den nächsten Kunden. Sie tippen auf ihren Smartphones herum, um sich zu beschäftigen. Auto um Auto rauscht vorbei, bis irgendwann wieder eines hält: ein Freier. Verhandelt wird am Fenster.
Milena erzählt dem Nachtclubbesitzer Manni, dass sie sich vor ihrem letzten Freier geekelt habe. Manni winkt ab. „Ja und? Warum beschwerst du dich denn jetzt?“ Dann haue sie halt ab, sagt Milena. Das hätten andere Frauen auch schon versucht, sagt Manni. Nach ein oder zwei Monaten seien sie dann wieder da gewesen. „Du weißt doch, worauf du dich eingelassen hast, oder nicht?“ Der Satz wirkt halb wie ein Vorwurf, halb wie eine Entschuldigung. Prostitution ist hart? Ist eben so.
Rita ist neu in ihrem Wohnwagen. Jeden Tag kommt Uschi vorbei und kassiert die Miete. Sie war früher auch Prostituierte. 70 Euro in bar, jeden Tag. Die Frauen müssen das Geld jeden Tag neu anschaffen. Uschi ist vieles für die Frauen, die in den Wohnwagen arbeiten: Chefin, Vermieterin, Mutter, Freundin, Aufseherin. Heute gibt Uschi Rita Tipps. Wenn ihr ein Mann komisch vorkomme, solle sie einfach einen so hohen Preis nennen, dass er wieder abzieht. Uschi meint damit: 50 anstelle von 30 Euro.
„Du musst, ich habe dafür bezahlt“
Rita bekommt Besuch von einem Freier. „No condom“, sagt der Mann. Doch in Deutschland herrscht Kondompflicht. Auf dem Papier. Rita besteht auf einem Präservativ. Sie wird deutlich. Der Mann gibt klein bei. Erstaunlich: Wie viele andere Freier in „Lovemobil“ hat auch er kein Problem damit, gefilmt zu werden.
Rita kommt aus Nigeria. Ihre Heimat zu verlassen, fiel ihr schwer. Sie ist mit dem Boot nach Europa gekommen. Schwimmen konnte sie nicht. Sie kam als Flüchtling, weil ein Visum zu lange gedauert hätte. Eine Frau erzählte ihr von Uschi. In Nigeria habe sie schon zeitweise als Prostituierte gearbeitet, dann aber gemerkt, dass sie in Deutschland mehr Geld verdienen kann. Eine Nigerianerin, die einsam aus einem alten Wohnwagen in die Dunkelheit des deutschen Waldes starrt – für die Filmemacherin Elke Lehrenkrauss spiegelt das auch die finsteren Seiten einer kapitalistischen und globalisierten Gesellschaft wider.
Milena sitzt auf dem Beifahrersitz ihres Campers und nimmt einen Zug von ihrer Zigarette. Manche Kunden würden ihre Zigaretten an Milenas Haut ausdrücken. „Wenn ich sage Nein, sagen sie: Du musst, ich habe dafür bezahlt.“ Manche Frauen würden gewürgt und geschlagen. Wenn sie nicht spurten, nähmen die Freier ihr Geld eben wieder mit.
An ihrem 18. Geburtstag hatte eine Bekannte Milena angerufen, sie habe für sie einen Job als Putzfrau in Deutschland. Die Freundin zahlte Milena das Flugticket und holte sie mit einem Mann am Flughafen ab, den sie nicht kannte. Sie schlossen Milena in ein Haus ein. Der Mann zwang sie mit Schlägen zum Sex mit Männern. Zwei Monate dauerte ihre Gefangenschaft, bis sie fliehen konnte. Trotzdem ist sie der Prostitution nicht entkommen. Über die Jahre hat sie jedes Vertrauen in Menschen verloren. Ihren Bruder liebt sie und eine Freundin in Berlin. Sonst niemanden. Ihre Freundin denkt, Milena würde in einem Restaurant arbeiten.
„Ich liebe Jesus“
Eine der großen Stärken von „Lovemobil“ ist die oft beklemmende Nähe, die Filmemacherin Elke Margarete Lehrenkrauss zu ihren Protagonistinnen hergestellt hat. Kein Wunder, dass die Dreharbeiten viele Monate gedauert haben. Die Frauen öffnen sich, sprechen von ihren Wünschen und Sehnsüchten, vom Schmerz, den sie aushalten müssen. Aus dem gewiss umfangreichen Filmmaterial wählte Lehrenkrauss viele Bilder aus, die ohne Dialoge auskommen – und doch umso mehr sagen. Die Autos, die an den Wohnwagen vorbeirauschen, entwickeln sich im Verlauf des Films zum Sinnbild für die ambivalente Situation der Frauen. Natürlich hoffen sie, dass ein Auto anhält. Ansonsten gibt es kein Geld. Doch wenn es hält, drohen neue Gefahren.
Ein Mann fragt, ob ein „spezieller Wunsch“ möglich sei. Na klar, lächelt Rita, solange er dafür bezahle, sei das kein Problem. Er gibt ihr 100 Euro. Als er durch die Schiebetür einsteigt, verfliegt Ritas Lächeln. Sie schließt die Augen und bekreuzigt sich. „Männer sind abstoßend“, sagt Rita später. „Sie behandeln dich, als ob sie in einem Supermarkt einkaufen würden.“ Dabei sei sie doch ein Mensch.
Einmal kommt ein Mann vorbei, nicht im Auto, sondern auf dem Fahrrad. Er ist kein Freier. Einer von der Kirche sei das, sagt Uschi. Rita freut sich: „Ich liebe Jesus, ich lese jeden Tag in der Bibel. Ich bin Christin.“ Jesus habe ja auch mit Prostituierten zu tun gehabt, sagt der Mann. „Aber der hat sie nicht gelassen, wie sie waren.“ Uschi warnt Rita: „Er möchte, dass du mit diesem Job aufhörst.“ Für Rita ist die Sache klar: „Geben Sie mir Geld, dann höre ich auf.“
Milena will raus. Aber sie kann nicht.
Es sind Szenen wie diese, die die oft gestellte Frage überflüssig machen, ob die Frauen sich freiwillig prostituieren. Die Frage nach der Freiwilligkeit, so wird im Film deutlich, ist allenfalls eine theoretische. Denn wie viel freier Wille steckt in der Entscheidung für die Prostitution, wenn es keine andere Perspektive gibt?
Nicht zu leugnen ist daher auch die Schwere, die den Film durchzieht. Es gibt Kriminalität, Ekel, Gewalt. Als eine Kollegin erstochen wird, scheint in Milena etwas zusammenzubrechen. Ob sie die nächste ist? Sie kauert auf der Matratze ihres Wohnwagens, ihr Gesicht in den Händen vergraben. Irgendwann beginnt sie leise zu singen. „Preist den Herrn, preist den Herrn, ihr Sänger. Preist ihn jeden Tag, ihr Sänger.“ Milena will raus. Aber sie kann nicht.
„Lovemobil“ zeichnet ein authentisches und mehrdimensionales Bild seiner Protagonistinnen, ohne dabei zu moralisieren oder auf den besonders tränenreichen oder Fremdschäm-Moment zu setzen. Filmemacherin Lehrenkrauss zeigte den Frauen nachher den fertigen Film. Sie waren nach ihren Angaben sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Voyeurismus-Vorwürfe sind hier fehl am Platz. „Lovemobil“ geht es um Tieferes. Er bildet die Frauen als das ab, was sie sind: Menschen, die Würde und Liebe verdienen.
Es ist zu hoffen, dass „Lovemobil“ ein breites Publikum erreicht, sowohl in der Gesellschaft als auch unter politischen Verantwortlichen. Rita, Milena und die vielen anderen Frauen haben es verdient. Mit ihnen steht Lehrenkrauss weiterhin im Kontakt. Was die Zuschauer im Film nicht erfahren: Rita und Milena haben den Ausstieg aus der Prostitution geschafft.
Lovemobil wird am Dienstag, 8.12.2020, um 23.55 Uhr im NDR ausgestrahlt.
Von: Nicolai Franz