Nach wie vor unverkennbar mit dem Sommersprossengesicht und der roten Igelfrisur sitzt Petra Pau vor rund zwei Dutzend Zuhörern bei der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) in Berlin, unweit des Brandenburger Tores. Sie hat einen kleinen Koffer mitgebracht, aus dem sich ein Tischchen ausklappen lässt – passend zu einer der Anekdoten, die sie aus ihrem Buch vorträgt. 2002 stellte Pau mit ihrer Parteikollegin Gesine Lötzsch die fraktionslose PDS-Abordnung im Bundestag. Die beiden Frauen hatten es per Direktmandat in den Saal geschafft, saßen allerdings „hinten, fast draußen“, so Pau – und ohne Tisch. Heute leitet sie als Bundestagsvizepräsidentin vom Podium aus Plenarsitzungen.
Bezüge zu ihrer ostdeutschen Geschichte gibt es an diesem Abend einige. So erzählt die 56-Jährige von ihrem Aha-Erlebnis während ihrer DDR-Ausbildung zur Kunsterzieherin. Sie selbst war getauft und konfirmiert worden, hatte einen evangelischen Kindergarten und die Christenlehre besucht. In der Bibel wusste sie entsprechend Bescheid – anders als ihre Kommilitonen. Diese kannten die Geschichten hinter den Bildern nicht. Damals habe sie das erste Mal bemerkt, „dass es ein Defizit im Bildungssystem der DDR gab“, erzählt Pau, die heute in Berlin eine Verfechterin des allgemeinen und verbindlichen Ethikunterrichts ist.
Über Religion Bescheid zu wissen, hält sie für eine wesentliche Grundlage der Gesellschaft. „Ich will, dass jedes Kind lernt, warum der Nachbar im Ramadan fastet. Ich will aber auch, dass jeder Schüler und jede Schülerin weiß, dass Christinnen und Christen Ostern und Weihnachten feiern oder auch Pfingsten und was sie damit verbinden“, sagt die Linken-Politikerin. „Und ich will genauso, dass alle wissen, dass in der nächsten Woche die jüdischen Menschen Neujahr feiern. Das gehört für mich zu den Grundlagen des Respekts vor dem anderen Menschen und vor seiner Würde.“ Ihr sei wichtig zu betonen, „dass wir sehr viel ärmer wären ohne die Menschen und ihren Glauben, den sie leben und aus dem sie ihre Motivation auch für gesellschaftliches Engagement schöpfen.“
Eine Linken-Politikerin, die sich durchaus als gläubig bezeichnen würde – für viele geht das nicht zusammen. „Wir sind keine atheistische Partei!“, darauf pocht Pau. Schon mit den ersten Programmen damals noch der PDS habe es eine sehr agile Arbeitsgemeinschaft der Christen und Christinnen gegeben. Bei immer wiederkehrenden Debatten gebe es jedes Mal Partner und Gleichgesinnte, insofern fühle sie sich in ihrer Partei gut aufgehoben.
Differenziertere Berichterstattung
Gefragt nach dem Marsch für das Leben, bei dem am Wochenende Tausende Lebensschützer unter heftigem Protest von Gegendemonstranten gegen Abtreibung und Sterbehilfe demonstriert hatten, antwortete Pau: „Ich war weder auf der einen noch auf der anderen Demonstration, ich war gar nicht in Berlin.“ Ihre Antwort sei jedoch klar: „Gewalt und Sachbeschädigung sind kein Mittel der Auseinandersetzung.“ Egal, worum es bei einer Auseinandersetzung gehe: „Ein brennendes Auto ist kein Argument oder hilft in der Sache irgendwie weiter.“
Sie habe sich wiederum geärgert, dass in Medienberichten die Gegendemonstranten als Abtreibungsbefürworter tituliert worden seien. Da wünsche sie sich eine differenziertere Berichterstattung, erklärte Pau. Denn sie sei mit vielen Menschen im Gespräch und habe die Erfahrung gemacht, dass die Demonstrationsteilnehmer auf beiden Seiten zum Teil sehr differenzierte Positionen zu vielen Aspekten hätten, „auch zum Umgang mit Frauen, die in einer entsprechenden Situation sind“.
Im Netz bedacht reagieren
In ihrer Anekdote „Alles Neuland“ erinnert sich die 56-Jährige mit etwas Nostalgie an die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Mitte der Neunzigerjahre, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und erntet in den Zeiten von Facebook, Twitter und Co. einige Lacher im Publikum. „Will ich heute in Medien vorkommen, ob Zeitung oder Webportal, dann am besten via Twitter.“ Als sie diese Geschichte damals geschrieben habe, bemerkt Pau trocken, habe sie noch nichts geahnt von einem US-Präsidenten, der noch vor dem Frühstück twittere.
Gerade in Zeiten der kurzen Nachrichten, mahnt Pau, müsse man „einmal mehr das Gehirn einschalten und sich die Frage stellen: ‚Muss man überhaupt was dazu sagen?‘, und wenn ja, in welcher Form – denn zurückzuholen ist das dann auch nicht mehr.“ Sie sei auch für die Zukunft fest davon überzeugt, dass Kommunikation nicht nur elektronisch stattfinden könne und schon gar nicht nur über die Netzwerke, „ich nenne sie ungern sozial, denn das meiste, was da abgeht, ist wenig sozial“. Natürlich erleichterten diese Möglichkeiten vieles und man erreiche Leute, an die man sonst gar nicht herankomme. Dennoch: „Wir müssen uns weiter Wege eröffnen, miteinander zu reden“, plädiert Pau für die direkte Begegnung zwischen Mensch und Mensch.
Ihr selbst fällt das Reden inzwischen wieder leichter, wenn auch die Stimme immer ein wenig brüchig klingt. 2010 erkrankte Pau an sogenannter Spasmodischer Dysphonie – damals versagte ihr die Stimme. „Es war eine Odyssee“, sagt die Politikerin über die Jahre, die folgten. Eine dazu passende Erzählung aus ihrem Buch verdeutlicht ganz praktische Nächstenliebe von Mensch zu Mensch – auch über die Grenzen von Ansichten und Fraktionen hinweg. 2012 konnte Pau erstmals wieder Bundestagssitzungen leiten – „mal besser, mal schlechter“. Ihr Vizepräsident-Kollege Eduard Oswald von der CSU ließ im Büro die Debattenübertragung mitlaufen. Ging es schlechter, löste er sie ab: „Petra, quäle dich nicht, ich übernehme jetzt. Schone dich, du wirst noch gebraucht.“ Dass diese Geschichte mit dem Titel „Ein wahrer Demokrat“ bei keiner von Paus Lesungen fehlen darf, spricht für sich.
Von: Christina Bachmann