Ein einzelner Scheinwerfer ist auf die junge Frau und ihr Akkordeon gerichtet. Die ersten Töne misslingen ihr, sie muss sich kurz sammeln. Dann hallt ihre Stimme hell und klar zur Musik des Instruments ins Auditorium des Berliner "Hauses der Kulturen der Welt". Das von vielen wegen seiner Form auch "schwangere Auster" genannte Gebäude ist eine Institution der Hauptstadt. Hier erleben Besucher Kunst und Politik hautnah, regelmäßig laden Veranstalter hierher zu Bildungs- und Kulturterminen ein. Was die Akkordeonspielerin Michaela Meise an diesem Abend singt, will jedoch so gar nicht in den aufgeklärt-künstlerischen Rahmen passen. "Halleluja, Jesus lebt", stimmt sie immer wieder an. Es ist der Refrain des Liedes "Preis dem Todesüberwinder" aus dem katholischen Gesangbuch des 17. Jahrhunderts.
Vier Tage lang steht das "Haus der Kulturen der Welt" im Zeichen der Religion. "Global Prayers" heißt das Projekt, das hier vorgestellt wird. Künstler und Wissenschaftler haben sich in den vergangenen Monaten mit dem Thema "Religion in der Metropole" beschäftigt. Das Bild, das sie gewonnen haben, ist vielschichtig. Eingeladen ist etwa die Sprach- und Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally. In ihrem Buch "Die Neuen Evangelikalen in den USA" zeichnet sie ein weitgehend positives Bild junger Christen. Ihrer Meinung nach sind sie ein wichtiger Pfeiler sozialen Engagements in der Großstadt.
"Eine Art evangelikaler Elvis"
Seit 2005 emanzipierten sich die Evangelikalen mehr und mehr von der republikanisch-konservativen Politik, die einst als Merkmal ihres Engagements galt, sagt Pally am Donnerstagabend. Stattdessen seien Umweltschutz und Nächstenliebe ihre Themen – und zwar ganz praktisch. Als Beispiel nennt Pally den christlichen Aktivisten Shane Claiborne, Autor des Buches "Ich muss verrückt sein, so zu leben", der in Philadelphia eine Kommunität gründete, die sich ganz dem Dienst an der Nachbarschaft verschrieben hat. "Er ist eine Art Elvis junger Evangelikaler", beschreibt sie seine Popularität. Alles, was diese Christen täten, entspringe "tiefem Glauben", ist sie sich sicher. Für Pally ist diese Entwicklung nichts Neues. Von jeher seien die Kirchen in den USA soziale Akteure mit basisdemokratischer Struktur gewesen, ein Gegenpart der Politik also. Die letzten 30 Jahre, in denen die Evangelikalen verstärkt im politischen System wirkten, bezeichnet sie als "Anomalie". Derzeit rekrutierten die evangelikalen Bewegungen verstärkt Gläubige aus der katholischen Kirche. "Bei den Evangelikalen haben diese Christen das Gefühl, ihrer Berufung nachzukommen", sagt Pally.
Kritischer sieht Nezar AlSayyad die Entwicklung der Religion in der Stadt. In seinem Buch "Fundamentalist City?" untersucht er religiöse Bewegungen und deren Entwicklung im öffentlichen Raum. Im "Haus der Kulturen der Welt" berichtet er, wie er eines Tages seine Wohnung in Kairo nicht mehr erreichen konnte, weil Muslime in den Straßen ihre Gebetsteppiche ausgerollt hatten. Über Lautsprecher habe jeder Kairoer am religiösen Leben teil, eine "Freiluftmoschee" nennt AlSayyad seine Stadt deshalb. "Wer hat das Recht auf öffentlichen Raum?", fragt er. Dürften Frauen aufgrund wachsender öffentlicher Religiosität diskriminiert werden? Dürften Gläubige einen öffentlichen Dresscode festlegen? Wie sei es mit dem Rauchen in der Öffentlichkeit? Solle das erlaubt bleiben? "Wo ist die Grenze?", fragt er und erinnert daran, dass terroristische Gruppierungen wie Hamas oder Hisbollah ihre Anhänger zunächst mit sozialer Hilfe lockten, um anschließend aktiv in den politischen Prozess einzugreifen.
Künstler besuchten "Berlinprojekt"
Die Debatte über Für und Wider der Religion in der Großstadt bereichern bei "Global Prayers" Künstler aus aller Welt. Schon zu Beginn des Abends hallen minutenlang akustische Aufnahmen eines Pfingstgottesdienstes in Lagos mit 500.000 Gläubigen durch das Auditorium. In einer Fotoschau zeigt Camilo José Vergara die Unterschiedlichkeit christlicher Kirchen anhand ihres äußeren Erscheinungsbildes. Magdalena Knallenberger und Dorothea Nold zeigen in ihrem Video "Raumtausch", wie aus öffentlichen Räumen Kirchen werden. Dazu haben sie freikirchliche Gemeinden in Berlin besucht, etwa das "Berlinprojekt", das seine Gottesdienste im Kino "Babylon" in Mitte feiert. Die Bewertung dieser Prozesse überlassen sie dem Zuschauer. Deutlich aber wird: Religion ist da, auch in der Großstadt. Damit strafen die Wissenschaftler und Künstler der "Global Prayers" all jene Lügen, die noch vor wenigen Jahren die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum propagierten. (pro)