Der 40-jährige Pablo (Juan Pablo Olyslager) führt eigentlich ein gutes Leben in der Hauptstadt Guatemalas: Er ist mit der bildschönen und liebenden Isa (Diane Bathen) verheiratet; zusammen haben sie zwei quirlige Kinder. Das Paar ist sehr aktiv in der evangelikalen Gemeinde. Pablos Familie ist wohlhabend und lebt auf einem großen Anwesen mit Dienstpersonal. Eines Abends kommt er aber nach Hause und nichts ist mehr, wie es war. Im familiären Kreis wird er des Fremdgehens beschuldigt. Wie sich dann herausstellt, hat er ein außereheliches Verhältnis mit dem Masseur Francisco (Mauricio Armas Zebadúa). Davon erzählt der Film „Temblores“ (Erdstöße), der seine Weltpremiere am Samstag im Panorama der Berliner Filmfestspiele gefeiert hat.
Der guatemaltekische Regisseur Jayro Bustamante war schon der Shootingstar der Berlinale vor vier Jahren, als er den Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven auf das Weltkino gewann. Damals erzählte er in dem Film „Ixcanul – Träume am Fuße des Vulkans“ vom Schicksal eines Bauernmädchens, das geschwängert und allein zurückgelassen wird. Fortan muss es gegen die gehässigen Dorfgerüchte und die Institutionen ankämpfen, die ihr das Leben noch schwerer machen, als es sowieso schon ist. Nur ihre Eltern halten in der auswegslosen Situation zu ihr. In „Temblores“ ist es jetzt hingegen vor allem die Familie, die dem Protagonisten das Leben zusätzlich erschwert.
Schwulsein „abgewaschen“
Nach der gemeinschaftlichen Thematisierung des Problems durch seine Frau, die Eltern und Geschwister erfolgt die Kriminalisierung. Denn Pablo ist nicht bereit, die Beziehung mit dem Masseur aufzugeben. Die Familie setzt durch, dass er seine Kinder nicht mehr sehen darf. Als Begründung wird seine „Pädophilie“ genannt. Rechtstechnisch gibt es da in Guatemala offenbar keine Unterscheidung zur Homosexualität. So lassen die Sicherheitsbeamten Pablo nicht mehr ins Schwimmbad, um mit seinen Kindern zu sprechen. Seine Schwester entlässt ihn zudem aus seinem Job. Umfassend nimmt die Familie dem mittellosen und geächteten Mann die Luft zum Atmen. Mangels anderer Alternativen beginnt er, in der evangelikalen Kirche zu arbeiten. Im Gottesdienst wird für ihn und seine Sexualität gebetet. Dort lässt er sich auch zu einer Therapie überreden. Die Therapie selbst ist dann in wenigen Szenen in einer dafür vorgesehenen Institution abgehandelt. Das Schwulsein wird ihm im Grunde genommen beim Duschen, so erzählt es der Film, „abgewaschen“.
„Temblores“ ist ein nur scheinbar eigenartiger Film. Sein Protagonist Pablo schleicht fast schlafwandlerisch durch sein Ehedrama. Ganz bei sich ist er nur, wenn er seine schwule Affäre besucht. Letztlich ist es sein christlicher Glaube, der ihn zur scheinbar erfolgreichen Therapie bringt. Aber sämtliche Charakerisierungen des Regisseurs und Drehbuchschreibers Bustamante offenbaren, wo seine Sympathien liegen: Liebevoll gezeichnet ist die Beziehung zwischen Pablo und dem Masseur Francisco. Seine Eltern dagegen diffamieren ihn zwischenzeitlich als Pädophilen, um ihren Willen durchsetzen zu können. Sein wahnsinnig schmierig gezeichneter Bruder macht sich hinterlistig an seine emotional angeschlagene Ehefrau ran.
Und ihr wird im Aerobic-Kurs von einer Kirchenmitarbeiterin geraten, regelmäßig Fellatio am Ehemann zu vollführen, um die Ehekrise abzuwenden. Dann käme er gar nicht mehr auf die Idee, das Ufer wechseln zu wollen. Auch hört Isa regelmäßig zur Erbauung das Hörbuch der Frau des Pastors. Die Ehetipps darin lauten zum Beispiel: Gehorche deinem Ehemann oder gehe auf seine Wünsche ein. Eine eigenartige Moral ist das, Treue nur durch vollkommene Unterwürfigkeit der Frau zu erlangen.
Kritik am Einfluss der evangelikalen Bewegung
Ästhetisch erinnern die rauen und doch stilisierten Straßenbilder von Guatemala-Stadt an das New-Hollywood-Kino der Siebzigerjahre. Damals verweigerte sich Hollywood dem Happy End. Auch das hat sich „Temblores“ zu eigen gemacht: In der letzten Szene des Films dreht sich der sexuell geläuterte Pablo zu seiner kleinen Tochter um, die ihm ob es des Sinneswandel einen langen kritischen Blick zuwirft. Im Interview nach der Weltpremiere des Films auf der Berlinale erzählte Regisseur Bustamante von seiner Motivation für „Temblores“: In seiner Heimat Guatemala sei in den vergangenen Jahren die evangelikale Bewegung auf dem Vormarsch. Das liege auch an der sozialen und politischen Instabilität seines Landes.
In der Freiheit des Liberalismus seien göttliche Gesetze eine Orientierung, um im Chaos nicht verlorenzugehen. Den wachsenden Einfluss religiöser Institutionen auf sein Land und vor allem die Politik habe er festgestellt. Bustamantes Film „Temblores“ ist seine Weise, diesen Sinneswandel zu kritisieren. Er tut das im Gewand eines Werkes, das vordergründig den Erfolg der Therapie eines Homosexuellen beschreibt. Auf der zweiten Ebene lässt der Regisseur aber keine Gelegenheit aus, das zu hinterfragen. Der Film hat dabei gerade auch das evangelikale Publikum seines Landes im Hinterkopf.
Von: Michael Müller