"Die Religion ist nicht die einzige, aber wohl unverzichtbare Quelle von Werten in einer Gesellschaft", betonte Lammert in seinem Vortrag. Die große Zeit der Religionen sei nicht vorbei, die gerade im westlichen Abendland fortschreitende Säkularisierung kein globaler Trend. In Zeiten rasanter Veränderungen wachse das Bedürfnis der Menschen nach verlässlichen Orientierungen, nach Überzeugungen, an denen man sich festhalten könne, sagte Lammert vor über 400 Gästen aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Der Bundestagspräsident stellte das Verhältnis von Politik und Religion sowie Staat und Kirche in den Mittelpunkt seines Vortrages.
"Politik ohne verbindliche Orientierung ist Selbstinszenierung"
Für die meisten Menschen sei die Religion eine ganz zentrale Orientierung, so der 63-jährige Christdemokrat. Wenn Werte und Orientierungen auch und gerade für moderne Gesellschaften unverzichtbar seien, dann müsse das allerdings auch für die Politik gelten.
"Politik ohne ein festes Fundament von Überzeugungen, aus denen heraus sich ein Gestaltungsanspruch herleiten lässt, ohne verbindliche Orientierung, ist die Selbstinszenierung von Macht", so Lammert. Der prinzipielle Unterschied zwischen Politik und Religion bestehe darin, dass Politik von Interessen handle, Religion von Wahrheiten. Politisches Handeln dürfe sich nicht allein auf Zweckmäßigkeitsfragen reduzieren, auf "virtuoses Abarbeiten von Fallkonstellationen". Wahrheiten seien nicht abstimmungsfähig und Interessen nicht wahrheitsfähig, so Lammert. Er warnte davor, religiöse Überzeugungen zu politisieren.
"Bei Spannungen muss es auch mal knirschen dürfen"
Die Kirche forderte der Bundestagspräsident dazu auf, sich nicht ins Spirituelle zurückzuziehen, sondern ihre Botschaft in die Gesellschaft einzubringen. Dies gehe nicht immer ohne Spannungen – es müsse auch mal knirschen dürfen, sagte Lammert. Die wirklich großen Fragen in der Welt nach Leben und Tod, Gut und Böse, Freiheit und Verantwortung, Frieden und Völkerverständigung seien "im Kern religiöse Fragen". Diese seien weder von den Kirchen noch von der Politik allein zu beantworten, sondern brauchten den Dialog. Als Beispiele nannte Lammert den Streit um die Schwangerenkonfliktberatung und die Diskussion um die Nutzung der modernen Gentechnologie. Bei diesen Themen stünden ethische Überzeugungen der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung gegenüber.
Angesichts aller Herausforderungen und Veränderungen in Kirche und Gesellschaft gab er den Gästen zum Schluss eine "Handlungsanweisung" aus dem Petrusbrief mit auf den Weg: "Seid immer bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand fragt, warum ihr so von Hoffnung erfüllt seid. Antwortet taktvoll und bescheiden und mit dem gebotenen Respekt – in dem Bewusstsein, dass ihr ein reines Gewissen habt." (pro)