Nichts hätte darauf hindeuten können, dass Ludger Hinse einmal ein bekannter Künstler werden würde. Aufgewachsen im Ruhrpott, in einer Bergarbeitersiedlung in Recklinghausen, mit einem Opa und einem Vater, die beide Bergarbeiter waren, war Kunst das Letzte, was die Familie interessierte. „Das einzige, was es an Kunst in unserem Haus gab, war der Fotokalender der Apotheken-Umschau“, sagt Hinse in seinem Haus in Dülmen in Nordrhein-Westfalen, gegenüber PRO.
Die anderen Jungs wollten Boxen lernen, Ludger malte auf alten Tapetenresten. „Ich weiß bis heute nicht, was mich zur Kunst trieb. Es war ein innerer Drang.“ Hinse betont: „Ich glaube an Gott. Und der hat mich mit Begabung ausgestattet.“ Mit einem Schmunzeln fügt er hinzu: „Meine Geschwister sind alle normal.“
Keiner der Jungs in seiner Klasse ging auf ein Gymnasium oder eine Realschule. Das Leben war vorgezeichnet: Aus ihnen sollten Arbeiter werden. Eine Begabtensonderprüfung ermöglichte Hinse jedoch ein Studium der Sozialarbeit an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum. „Da war ich so eine Art katholischer Anarchist“, lacht Hinse. Diesen Ausdruck erklärt er so: „Katholisch bin ich, weil ich so getauft bin, Anarchist bin ich, weil ich die Herrschaft des Menschen über den Menschen ablehne. Ich akzeptiere nicht die Herrschaft durch einen Papst oder Kaiser oder König. Die einzige Herrschaft, die ich akzeptiere, ist die Herrschaft Gottes. Und nur vor dem rechtfertige ich mich.“
Hinse wurde 1984 in Bochum jüngster Vorsitzender der IG Metall. Doch immer war da die Malerei, und im Privaten malte Hinse weiter. Kaum jemand wusste davon. Erst als eine Museumsdirektorin aus der Region bei ihm zu Besuch war und durch Zufall seine Bilder sah, leierte die eine erste Ausstellung an. Alle Bilder Hinses waren noch am ersten Tag verkauft. „Das war mein Start in die Kunstwelt – ein Raketenstart.“ Er ist sich bewusst, dass das ein Segen von oben war und keineswegs bei jedem Künstler so abläuft. Heute blickt der 74-Jährige auf sein Leben: „Ja, ich habe das Glück, ein sehr gefragter Künstler zu sein.“
„Karfreitag ist nur zu ertragen, weil es Ostern gibt“
In Chile lernte Hinse etwas über die Proteste gegen die Pinochet-Diktatur. Mütter demonstrierten gegen das Verschwinden ihrer Kinder, und sie hielten auf ihren Märschen Kreuze hoch. „Diese schlichten Kreuze, bestehend aus zwei Holzlatten, schützten diese Frauen davor, von den Soldaten erschossen zu werden! Das hat mich so tief bewegt, dass ich noch in der Nacht anfing, Kreuze zu zeichnen“, sagt Hinse.
Die Faszination für das Kreuz ließ den gläubigen Christen von da an nicht mehr los. „In meiner Erziehung stand das Kreuz immer für Leid. Doch ich erkannte, dass das Kreuz eigentlich ein Symbol der Freude ist!“
„Die Kirche darf nicht vom Leid besessen sein“, sagt Hinse, der nach wie vor Mitglied der katholischen Kirche ist und regelmäßig sonntags in den Gottesdienst geht. Die Kirche beschränke sich aber in ihrer Botschaft auf die Verdammung von Sünde, Sexualität etwa werde als etwas Schlechtes dargestellt.
Hinse ist zudem die Form seiner Kreuze wichtig: Sie sind alle gleichschenkelig, die vier Enden sind also alle gleich lang. „Machen Sie einmal mit ihrer Hand die Segens-Geste! Dann vollführt Ihre Hand ein gleichschenkliges Kreuz, nicht etwa mit einem längeren Balken in der Mitte.“ Von einem gleichschenkligen Kreuz gehe für ihn viel mehr Segen aus, sagt Hinse. Die „Frohe Botschaft“, die seine Kreuze verkünden sollen: „Karfreitag ist nur zu ertragen, weil es Ostern gibt.“ Den Kirchen wirft er vor: „Ihr habt das Kreuz missbraucht zur Unterdrückung der Menschen.“ Zu seinem großen Erstaunen rufen seine fröhlichen Licht-Kreuze gerade in der katholischen Welt immer wieder Unbehagen aus, stellt Hinse fest. Aber für ihn ist klar: „Unser Glaube ist doch schön. Meine Kreuze sollen das widerspiegeln.“ Er fügt hinzu: „Ich bin nach wie vor überzeugter Katholik, aber ich bin kein Vertreter irgendeiner Kirche.“
Manchmal predigt Hinse selbst in Kirchen. „Wer vor zehntausend Stahlarbeitern geredet hat, der kann auch in der Kirche sprechen.“ Seine Botschaft sei dabei häufig das Licht des christlichen Glaubens, das im Kreuz seinen Brennpunkt habe. „Im Glauben steckt Befreiung und nicht Knechtschaft!“, sagt Hinse. Der Künstler, der häufig Hosenträger trägt, sammelt sogar Steine, deren weiße Quarz-Adern ein Kreuz bilden. Sogar die Kette, die er um den Hals trägt, hält einen Bernstein, in den der Künstler ein Kreuz geritzt hat.
Diskussion um „Splitterkreuz“
Heute hängen seine Licht-Kreuze in über 80 Orten in Kirchen in ganz Europa, von Schottland bis zur Schweiz, in Holland und in Spanien. Seine bekannteste Ausstellung, „Das Kreuz mit dem Kreuz“ vor zehn Jahren haben mehr als 140.000 Menschen in 21 Städten gesehen. Es gibt 29 Bücher und Kataloge über Hinses Werk.
Das vielfarbige Kreuz aus Plexiglas ist mit einer Folie namens „Radiant“ beschichtet. Sie bewirkt, dass das Objekt aus jeder Richtung eine andere Farbe zeigt. Wenn sich das Kreuz, aufgehängt in einer Kirche, vom Luftstrom angestoßen, dreht, dann kommen immer andere Farben zum Vorschein. Der Betrachter spiegelt sich darin, gleichzeitig kann er aber auch hindurchsehen, denn das Material ist halb lichtdurchlässig.
Auf Sylt stehen in vier Kirchen Kreuze Hinses: In St. Martin in Morsum, St. Christophorus in Westerland, St. Thomas in Hörnum und St. Raphael in List. Noch bis zum 2. Oktober (Erntedank) bilden diese vier Orte gemeinsam ein großes Kreuz, das „NordLICHTKreuz“. Dabei hatte Hinse kurz nach dem Start der Installation noch Ärger mit einer der Gemeinden, was zum Abbau eines der Kreuze führte. Wenn Hinse heute davon berichtet, erhöht sich spürbar sein Puls.
In der Kirche St. Jürgen in List hing ursprünglich sein „Splitterkreuz“, das steht für „Scherben, Splitter, Wunden, Zerbrochenes“, erklärt Hinse. „Wunden der Menschen werden im Kreuz aufgenommen und verwandelt.“ Mit dieser Interpretation habe die Pfarrerin der Gemeinde allerdings nicht leben können, sie habe dem Künstler eine „Überhöhung“ des Kreuzsymboles vorgeworfen.
Die Pastorin sieht die Sache anders. Ihr sei es nicht um eine künstlerische Frage gegangen, sagte sie gegenüber PRO. „Das Kreuz war während des Transports massiv beschädigt worden. Herr Hinse sah keine Möglichkeit, den Schaden vor Ort zu reparieren und hat dann den Mangel positiv gedeutet, indem er sagte, das Kreuz sei als Leidenskreuz gedacht.“ So sei es ursprünglich aber nicht verabredet gewesen. Der Kirchengemeinderat habe sich zuvor mit dem Künstler darauf geeinigt, dass in der Kirche St. Jürgen kein Splitter- oder Leidenskreuz hängen sollte, so die Pastorin.
Nach der Auseinandersetzung ließ Hinse das Lichtkreuz sofort abhängen, so der Künstler. „In 35 Jahren Ausstellungen ist mir so etwas noch nie passiert.“ Die Gemeindeleitung wollte schon zu Beginn, dass das Kreuz nicht mehr angestrahlt wird. „Damit verliert das Kreuz natürlich seine Wirkung und Bedeutung.“
Enttäuscht stellte er am Ende dieser Episode fest: „Leider verstehen viele Menschen gar nicht, worum es mir beim Kreuz geht.“ Aber es gab ein Happy End: Die katholische Kirche St. Raphael im selben Ort fragte an, ob sie stattdessen an dem Projekt teilnehmen dürfe. Hinse sagte zu, und seitdem hängt das Lichtkreuz dort.
Die Installation „NordLICHTKreuz“ wolle „gerade in der aktuell oftmals so bedrückenden Zeit ein Zeichen setzen, dass das Kreuz eben nicht nur das qualvolle Kruzifix als Symbol von Leid, sondern auch das Sinnbild der Erlösung und der Auferstehung ist“, klärt ein Info-Text die Inselbesucher auf, „und dass es bei allem Schrecken immer auch die Hoffnung gibt“.
7 Antworten
Leuchtfeuer und Siegeszeichen!
Danke
„Steine, deren weiße Quarz-Adern ein Kreuz bilden.“
Interessant, so ein Stein liegt auch auf meinem Schreibtisch 🙂
Wunderbar,so kann unser Gott und Herr in uns wirken. Sehr schön…. ich habe so etwas ähnliches erlebt und male auch, aber nur für mich. Danke für dieses Zeugnis.
Leider hat Herr Hinse die Fakten bezüglich der Situation in der Kirche in List gänzlich falsch dargestellt, was sehr bedauerlich ist, aber wahrscheinliche seinen Grund hat. Es ist schade, dass die Medien solche Vorwürfe ungeprüft veröffentlichen – früher gab es noch einen recherchierenden Journalismus, jetzt wird offenbar alles publiziert, was nach Sensation klingt. Ganz egal, ob dabei eine ganze Gemeinde und eine Pastorin grundlos beleidigt werden – traurig und unchristlich.
Plastikkunst, die dauerhaft angestrahlt werden muss, also zusätzliche Ressourcen verbraucht, ist keineswegs nachhaltig und zeitgemäss.
Die Kreuze leuchten durch das einfallende Licht der Sonne,durch die Kirchenfenster.So ist es bei uns in Brandenburg an der Havel!
Es ist kein künstliches Licht nötig!
Hallo Frau Gruenagel, entschuldigen Sie, dass wir noch nicht reagiert hatten. Wir leiten Ihren Kommentar an die Redaktion weiter und prüfen den Artikel nochmal.
Herzliche Grüße vom PRO-Team