Unter dem Titel „Über dich freuet sich die ganze Schöpfung“ stellt die Kunsthalle Recklinghausen 250 Ikonen aus, die vor allem aus dem 15. bis 17. Jahrhundert aus Russland und Griechenland stammen. Die Bilder sind vom 6. Juni bis zum 30. August auf drei Etagen zu sehen. Es handelt sich um eine Schenkung des früheren Düsseldorfer Jugendrichters Reiner Zerlin. Die Ausstellung richtet sich ausdrücklich nicht nur an Fachleute, betonen die Verantwortlichen. Erklärt werden die Bedeutung, Geschichte und regionale Entwicklungen der Ikonenmalerei. Die Stadt Recklinghausen war auch zuvor bereits eng mit dem Thema Ikonen verknüpft: Nur wenige hundert Meter von der Kunsthalle entfernt befindet sich seit 1956 das Ikonen-Museum mit mittlerweile fast 4.000 Objekten – eine der größten Sammlungen außerhalb orthodoxer Länder.
Heilige als Vermittler zwischen Gott und den Menschen
Doch was sind eigentlich Ikonen? „Es sind die Kultbilder der orthodoxen Kirchen“, sagt Lutz Rickelt, Leiter des Ikonen-Museums. Viele Gläubige der orthodoxen Kirche waren und sind überzeugt, dass in der Ikone das Urbild der abgebildeten Personen wirksam wird. Es ist üblich, Ikonen auch in Privathäusern in einer sogenannten Schönen Ecke zu platzieren. Insofern unterscheiden sie sich von den bloßen Darstellungen der Heiligen, wie sie im westlichen Europa über Jahrhunderte üblich waren. Anders als dort sind auch die Namen der Künstler meistens unbekannt und auch nicht so wichtig; Ikonen sind nie signiert. Vom Maler wird zudem eine entsprechende spirituelle Haltung erwartet bei der Anfertigung.
Am häufigsten zeigen Ikonen der Ostkirchen die „Gottesmutter“ Maria, aber auch Christus oder Heilige. Am zweithäufigsten ist der heilige Nikolaus abgebildet. Der Gläubige erhofft sich die Fürbitte des oder der Abgebildeten vor Gott. So sind etwa die Heiligen Kosmas und Damian die am meisten verehrten Arztheiligen und Schutzpatrone der Mediziner und Apotheker, sie gelten aber auch als „Spezialisten“ für Bitten um Heilung von Krankheiten. Teilweise ranken sich verrückte Geschichten darum, was ein Heiliger erlebt oder getan hat. Eine Texttafel klärt auf: Der dargestellte heilige Antonius etwa soll 1106 auf wundersame Weise auf einem schwimmenden Stein von Rom bis nach Novgorod (südlich von Sankt Petersburg) gelangt sein. Wer sich und seinem Seelenheil etwas Gutes tun wollte, spendete einer Ikone einen Metallbeschlag, der schützte das Heiligenbild vor Weihrauch und Staub, und im Gegenzug bekam der Stifter (hoffentlich) eine Fürsprache im Himmel. Der Erzengel Michael wiederum gilt als Schutzheiliger für Kranke, aber auch für Soldaten, Bauern und Handwerker.
In den 70er Jahren war das Sammeln von Ikonen „in“
Der ehemalige Besitzer der ausgestellten Ikonen, der 1939 geborene Reiner Zerlin, war lange Jahre als Jugendrichter am Amtsgericht Düsseldorf tätig. Schon im Alter von 18 begann er mit dem Sammeln von Ikonen, gemeinsam mit seinem Bruder Jochen. Der sagte vorab in einem Pressegespräch, die Sammelleidenschaft sei durchaus religiös begründet. „Für uns beide sind Ikonen nicht nur Kunstwerke oder Zeugnisse religiöser Kultur, sondern auch vor allem Gegenstände gläubiger Verehrung im Geiste des Johannes von Damaskus, des letzten großen Kirchenvaters.“ Jochen Zerlin ist katholischer Priester im Ruhestand, und auch er möchte seine Sammlung irgendwann der Stadt Recklinghausen schenken. Für Ikonen begeisterte er sich schon als 15-jähriger Teenager. „In den siebziger und achtziger Jahren war das Sammeln von Ikonen richtig ‚in‘“, sagt Eva Haustein-Bartsch, die von 1983 bis 2018 Leiterin des Ikonen-Museums Recklinghausen war. Inzwischen seien die Sammler häufig sehr betagt und ihre Nachkommen eher selten an der Fortführung der Sammlungen interessiert.
Auf den ersten Blick wirken die Bilder in der Recklinghausener Ausstellung fast schlicht. Erst auf den zweiten und dritten Blick erschließt sich die kostbare Ausstrahlung, die von diesen Bildern ausgeht. Goldflächen glänzen im Licht, und so manchem Werk sieht man sein hohes Alter an. Wie viel Weihrauch mag über die Holzflächen gezogen sein, wie viele Finger haben sie in der Hoffnung auf Heilung berührt?
„Ikonen sind Hilfsmittel, sich etwas vorzustellen, wie eine Kinderbibel oder ein Jesusfilm“
Der Theologe und Sprachwissenschaftler Roland Werner kam erstmals in den koptischen Kirchen in Ägypten in Berührung mit Ikonen. „Hier sind besonders die eindrucksvoll, die das Martyrium von Jesusnachfolgern darstellen“, sagt Werner gegenüber pro. „Das Bild soll an den Glaubensmut und die Standfestigkeit dieser frühen Christen erinnern.“ Werner erklärt: „Ikonen – also Bilder, denn nichts anderes bedeutet das griechische Wort – versuchen, zentrale biblische Geschehnisse und Wahrheiten in verdichteter Weise darzustellen. Sie haben meist einen biblisch-historischen Hintergrund, weben aber zugleich eine theologische und geistliche Deutung mit hinein. So sind sie Verkündigung im Bild.“ Die meisten Ikonen stammten aus einer Zeit, als viele Menschen nicht lesen konnten und die Welt noch nicht so bildüberflutet war wie heute, erklärt der Theologe.
Er selbst besitzt Ikonen, von denen ihm die Auferstehungsikone am liebsten ist, die Bruder Elia von der Jesusbruderschaft in Latrun (Israel) für seine Familie angefertigt hat. „Sie feiert den Sieg Jesu über Sünde, Tod und Teufel“, sagt Werner, für den Ikonen vor allem „Gottes Geschichte in unserer Welt“ erzählten. Auf die Frage, ob hier nicht das biblische Verbot gebrochen werde, sich keine Bildnisse von Gott oder Götzen zu machen, antwortet der Bibelübersetzer und Buchautor: „Ikonen wollen eigentlich von sich selbst wegweisen auf das Ereignis beziehungsweise die Person, die sie darstellen.“ So sei etwa die alte koptische Ikone „Jesus und Menas“ „eine Erinnerung daran, dass Jesus bei uns ist im Leben und im Tod“: Hier lege Jesus dem Märtyrer Menas die Hand auf die Schulter und zeige so: „Ich stehe zu dir und stärke dich!“
Lange habe man in der Kirche darüber gestritten, ob man Gott und sein Wirken bildlich darstellen dürfe, sagt Werner. „Schließlich siegte die Auffassung: Weil Gott sich selbst in Jesus sichtbar gemacht hat, dürfen wir auch Jesus darstellen, den menschgewordenen Gott. Wie in dem Bibelvers ‚Wir sahen seine Herrlichkeit …‘ (Johannes 1,14). Dennoch ist hier eine feine Linie zu beachten: Bilder sind nur Hilfsmittel, sich etwas vorzustellen, seien sie in einer Kinderbibel, einem Jesusfilm oder einer Ikone zu sehen. Doch das sind nur Repräsentationen, die uns an Gott und sein Wirken erinnern können. In sich haben sie keine geistliche oder gar magische Kraft und sollten auch nicht so verwendet werden.“
Werner leitete mit seiner Frau die ökumenische Gemeinschaft Christus-Treff (CT) in Marburg, Jerusalem und Berlin. Er war unter anderem Vorsitzender des Jugendkongresses Christival und Generalsekretär des CVJM. Heute ist er Vorsitzender des Vereines ProChrist e. V. und der Lausanner Bewegung Deutschland. Seit 2008 arbeitete Werner an einer neuen Übersetzung der Bibel ins Deutsche, unter dem Namen „dasBuch“ sind inzwischen das Neue Testament und die Psalmen erschienen.
Von: Jörn Schumacher