Am Treffpunkt für die Führung im Städel Museum in Frankfurt hasten die Gäste einer Gala-Veranstaltung in Erwartung auf delikate Häppchen oder auf einen lauen Sommerflirt in kunstvoller Umgebung achtlos vorbei. Männer im edlen Zwirn und Damen in schicken Cocktailkleidern. Andy Warhols monumentales Goethe-Konterfei im klimatisierten Metzler-Foyer des Museums nehmen sie kaum wahr. Anders die Teilnehmer der Führung in der Reihe „Kunst und Religion“. Die Besucher im Alter zwischen 30 und 70 Jahren, die sich neben Kunst auch für Religion interessieren, sind zu abendlicher Stunde erwartungsvoll gespannt. An dem schwül-heißen Junitag nehmen heute nur zehn statt der üblichen 30 bis 50 Personen teil. Ein einziger Herr hat sich unter die Damen gemischt. Einige der Kunstinteressierten haben sich mit schlichten Leih-Klappstühlen ausgerüstet.
Zu einem Werk der Sammlungen im Städel referieren an diesem Abend Rektor Stefan Scholz, in der Katholischen Akademie Rabanus Maurus für den Bereich der Kunst zuständig, und die Kunsthistorikerin und freie Kuratorin Rita Delhées. Bei dem Projekt „Kunst und Religion“, das in Form eines kunsthistorischen und philosophischen Dialoges stattfindet, arbeiten neben Scholz auch der Pfarrer für Stadtkirchenarbeit am Museumsufer, David Schnell, sowie weitere ausgebildete Kunsthistoriker aus den Vermittlungsteams des Städel Museums und der Liebighaus Skulpturensammlung mit.
„Das Format ‚Kunst und Religion‘ ist seit mittlerweile über 15 Jahren fester Bestandteil des vielfältigen Vermittlungsangebots“, sagt Chantal Eschenfelder, die Leiterin der Bildungs- und Vermittlungsabteilung der beiden Frankfurter Kunsthäuser. Gefördert wird das Projekt von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKNH) durch deren Stiftung. Die Reihe erfreue sich sowohl im Städel als auch im Liebieghaus anhaltend großer Beliebtheit und werde stets rege besucht, sagt Eschenfelder.
Moderne und Klassik
Scholz, der als Priester im Dom zu Frankfurt tätig ist, trägt an dem Abend dreiviertellange Leinenhosen und ein schlichtes grünes T-Shirt. Kunst ist die persönliche Leidenschaft des Kirchenmannes. Sein Gegenüber in dem Dialog, der dem Zugang zur Kunst dient, ist heute die Kunsthistorikerin Rita Delhées. Sie trägt klassisch einen knielangen, eleganten Rock. Ihren dunkelblauen Blazer hat sie locker über die Schultern gehängt.
Die Gruppe setzt sich vom Foyer aus in Bewegung. Mit jeder Stufe aus dem kühleren Kellergeschoss zum Ort der Veranstaltung, der Abteilung „Alte Meister“ im Städel, steigen Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit spürbar an. Ziel der Gruppe ist ein Werk des italienischen Malers Pompeo Girolamo Batoni aus dem Jahr 1740 im Obergeschoss, das die freien Künste in der Gestalt von fünf Frauen und weiblicher Schönheit darstellt.
Vergil und Homer am Boden
Im Zentrum des Bildes mit dem Titel „Allegorie der Künste“ sitzt die Frau, die die Malerei repräsentiert, an einer Staffelei. Sie wendet sich, Palette und Pinsel haltend, der Dichtkunst zu, die hinter ihr steht. Von ihr erwartete sie mit hoffnungsvollem Blick Inspiration. „Die Malerei hat damit begonnen, den fliegenden Merkur zu malen“, erläutert Delhées. Vorne links auf dem etwa 1,4 Meter mal 1,8 Meter großen Ölgemälde hat die Bildhauerei sitzend ihren Platz eingenommen und bewundert, einen Hammer in der Hand haltend, die Malerei. „Die Architektur, erkennbar an einem Zirkel, und die Musik, eine Flöte haltend, hat der Maler in den Hintergrund, teils in den Schatten, gerückt“, erklärt Delhées weiter.
Der Dichtkunst, im weißen Gewand gekleidet und eine Harfe in der Hand, liegen Werke von Vergil und Homer zu Füßen. Malerei und Dichtung führen ein Gespräch, einen philosophischen Dialog. „Das Gemälde setzt sich mit der Renaissance auseinander und nimmt den Gedanken auf, dass die Malerei der Poesie gleichgestellt ist.“ Die Malerei, erklärt die Expertin, steigt in der Renaissance vom schlichten Handwerk zur Kunst auf, dem Rang, der der Dichtkunst von je her zustand.
Polyphonie der Schönheit
„Die Malerei bildet nun nicht mehr lediglich die Natur ab, sondern ist geeignet, Erkenntnis zu schaffen aus dem Geist des Malers heraus“, sagt Scholz. Im Kern handle das Gemälde von Schönheit und Ordnung, verkörpert durch die freien Künste in Gestalt der Frauen. „Schönheit ist ein Ausweis Gottes“.
Wenn der Betrachter Schönheit und Ordnung in dem Gemälde und der Darstellung der freien Künste erkenne, verweise das auch auf die Schönheit Gottes. „Die perfekte Ordnung ist die göttliche Ordnung. In der Trinität kommen Einheit und Verschiedenheit in vollkommener Harmonie zusammen“, sagt der Theologe.
In der „Polyphonie der Schönheit“ werde Gott, das Göttliche sichtbar. Das einzelne Werk eines Künstlers als Teil eines höheren, künstlerisch vollkommen Ganzen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Werke, greife den theologischen Begriff der Menschwerdung auf. „Gott, der ins Fleisch kommt, der sich in dem Menschen Jesus von Nazareth vollkommen zeigt.“ Gott ist qua Existenz wahr, sagt Scholz. „Er muss seine Wahrheit nicht erklären, sondern wenn ich Gott sehe, dann weiß ich, er ist wahr, er ist schön, er ist gut.“ Bedächtiges Schweigen erfüllt den Raum nach inhaltsschweren Gedanken. Nur das monotone aber wirkungslose Brummen der Klimaanlage ist einen Moment lang vernehmbar.
Kunst weitet Blick auf existenzielle Fragen
Die beiden Experten verorten die Bedeutung des Gemäldes in der Kunstgeschichte, nehmen Bezug zur Philosophie und gehen dabei auf Gesichtspunkte über Kunst und Wissenschaft bei Augustinus, Horaz, Sokrates und Aristoteles ein und erläutern so den Bezug des barocken Gemäldes zur Renaissance. Eine Fülle Informationen und Gesichtspunkte, die sie den gebannten Hörern und Betrachtern zu dem Werk in kurzweiligen, kenntnisreichen Referaten mitgeben.
Eine Auseinandersetzung mit Kunst hält Scholz für Christen „nicht für heilsnotwendig“. Er erachtet es jedoch als notwendig, außerhalb der eigenen Denk- und Glaubensweise, außerhalb der eigenen Theologie und kirchlichen Frömmigkeit, andere Erfahrungen zu machen, um ein Gespür für Menschen und die Zeit zu bekommen, in der dann auch Verkündigung des Evangeliums stattfinde. „Ich glaube nicht, dass die Beschäftigung mit Kunst unmittelbar die Glaubensverkündigung vermehren würde. Aber sie hat die Fähigkeit, sensibel zu machen für existenzielle Fragen des Menschen.“
Für ihren kunsthistorischen und philosophischen Dialog erhalten die Referenten nach schweißtreibenden 60 Minuten anerkennenden Applaus. Für eine weiterführende Diskussion über das Gemälde und den Ausflug in die Philosophie fehlt es heute angesichts der Hitze allen Besuchern am dafür notwendigen Elan. Das Gehörte vertiefen einige nach der Veranstaltung noch einmal bei einer genaueren, stillen Untersuchung des Betrachungsobjektes. Schließlich zerstreut sich die Gruppe.
Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Musik und Architektur, die fünf Damen der „Allegorie der Künste“, bleiben beim Brummen der Klimaanlage im dämmerigen Licht zu später Stunde allein zurück. Im Foyer haben die Gala-Gäste immer noch keinen Blick für Warhol, als die Besucher das Museum verlassen. (pro)
Führungen in der Reihe „Kunst und Religion“ finden jeden vierten Donnerstag im Monat statt. Die Teilnahme ist im Eintrittpreis enthalten. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Von: nob