„Wir wollen aufstehn, aufeinander zugehn“ – in Kirchen, Klöstern und auf Festivals wird dieses Lied gesungen, in Kindergärten, Kulturzentren, Schulen, sogar Altenheimen, in Deutschland und weltweit. Millionen Klicks hat es bei YouTube: „Voneinander lernen, miteinander umzugehn.“ Das muss ein Lied erstmal schaffen. Es stammt aus der Feder Clemens Bittlingers. Der hessische Pfarrer und Liedermacher steht seit 38 Jahren auf der Bühne, gibt in jedem Jahr rund 100 Konzerte – und wird in diesem Jahr 60 Jahre alt. Und er singt immer noch „Aufstehn, aufeinander zugehn…“, das hat schon Kultstatus.
Was viele nicht wissen: Bittlinger komponierte diesen Gassenhauer 1995 für eine Osterrocknacht im Privatfernsehen. „Die Show sollte auch eine Aktion gegen Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit in Gang setzen“, erzählt er, und verrät, dass er für das „Dab dab daba du daa dab“ eine Anleihe aus einem Song der Band Purple Schulz übernommen hat, mit Erlaubnis selbstverständlich. Schnell trat der beherzte Rumtata-Song seinen Siegeszug an – auch durch Kirchengemeinden. Vielen traditionellen Kirchenmusikern war – und ist (!) – der Erfolg des Liedes ein Gräuel, zu schlicht und einfach.
Eine kirchenmusikalische Fachzeitschrift bemäkelte gar „das rhythmisch ekstatische Kleid“ des Liedes. „Inzwischen reagiere ich gelassen auf solche Kritik“, sagt Bittlinger. Der Grund für seine Gelassenheit: Wochenende für Wochenende merkt er, das Lied erreicht die Menschen und bringt sie tatsächlich zum Aufstehen – was herkömmliche Kirchenlieder nur selten schaffen. Die Kunst, Menschen zum Mitklatschen zu bringen, ist nur die eine Seite Bittlingers. „Sei behütet“, ein ruhiges Segenslied, gehört ebenfalls bereits zu den Hits der neuen geistlichen Musik. Ergreifend, wenn Tausende Menschen es zusammen singen. So wie 1999 beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages, ein Chor von 70.000 Menschen. Danach fuhr er in die Klinik, um 19.52 Uhr wurde seine Tochter Enya geboren. Er hielt sie in den Armen und sang ihr „Sei behütet“ vor. „Etwas Größeres gibt es nicht“, denkt er noch immer, wenn er zurückblickt.
Vater setzte sich für charismatische Bewegung ein
Obwohl er Pfarrer ist: Das Wort „Gott“ kommt in Clemens Bittlingers Liedern gar nicht so oft vor. Missionarisch ist er dennoch. So wie sein Vater, Arnold Bittlinger, der war ebenfalls Pfarrer, er arbeitete im Volksmissionarischen Amt. Auf einer Studienreise durch die USA lernte er die dortige charismatische Bewegung kennen und sorgte dafür, dass sie in Deutschlands behäbigen Landeskirchen Fuß fassen konnte. Die Gottesdienste sollten lebendiger werden, dem Wehen des Geistes mehr Raum lassen. Clemens wuchs also in frommem Hause mit Neugier und weitem Horizont auf.
Mit 17, 18 wandte er sich vom elterlichen Style ab. Gleichzeitig merkte er: In der Christenwelt tut sich etwas. Neue, junge und unkonventionelle Liedermacher tauchten auf, spielten und sangen in einer ungekannten Weise vom Glauben: Siegfried Fietz, Arno & Andreas, Dieter Falk. Vom älteren Bruder lernte Clemens Gitarre. Begeistert hörte er die Musik von Reinhard Mey und Konstantin Wecker. Er schrieb erste Lieder, sein Vorsatz dabei: „Sei ehrlich. Versuch keine frommen Phrasen oder sowas unterzubringen und versuche, nicht auf jede Frage eine fromme Antwort zu finden.“
Schnell machte der smarte junge Liedermacher von sich reden. Sein erster Erfolg: Ein Lied, in dem er erzählt, was er in der Verhandlung zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gefragt wird: „Warum singst du nicht in Kambodscha?“ Junge Christen horchten auf. Hier war einer fromm und gleichzeitig politisch eher links. Ein Lichtblick für viele evangelikale Christen, die auf einen Aufbruch auch in der evangelikalen Szene hofften.
Mischung aus Bruce Springsteen und Jürgen Fliege
Seitdem ist Clemens Bittlinger auf vielen Grenzen unterwegs und lässt sich nicht so recht einordnen. Musikalisch schwebt er zwischen Schlager, Pop und Chanson. Geistlich zwischen pietistischer Frömmigkeit und volkskirchlichem Mainstream-Glauben. Textlich zwischen politischem Liedermacher-Jargon, einfach einprägsamen Zeilen und dem, was Kritiker mit dem bösen Wort „Betroffenheitslyrik“ bezeichnen. Bittlinger wirkt wie ein Einzelkämpfer, doch tritt er gerne auch mit anderen Menschen auf, die Wesentliches zu sagen haben.
Zum Beispiel mit Pater Anselm Grün und dem Astrophysiker Andreas Burkert. Die Wochenzeitung Die Zeit beschrieb Bittlinger kürzlich als Mischung aus Bruce Springsteen und Jürgen Fliege. Das passt: Im bunten Hemd und Dreitagebart spielt er die Klampfe, doch die Songs, die herauskommen, sind eher seicht und gefühlig. Mit dem Etikett „frommer Liedermacher“ kann er nicht viel anfangen. „Ich stolpere Jesus hinterher“, entgegnet er dann. In seinen Konzerten bekennt er sich zum Glauben und erklärt couragiert, was das für Folgen hat: Toleranz dem Fremden gegenüber zum Beispiel, egal ob es in Gestalt von Flüchtlingen auf uns zukommt oder von Menschen, die anders glauben oder sexuell anderes orientiert sind. Geduldig plädiert er für einen christlichen Glauben, der nicht ausgrenzt, sondern sich öffnet.
Das ist das Geheimnis, weshalb seine Konzerte meist ausverkauft sind. Wochenende für Wochenende tingelt er durch Kirchengemeinden zwischen den Alpen und Ostfriesland, spielt aber auch auf großen christlichen Events und Kirchentagen. Dabei hält er mit seiner Meinung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen nicht hinterm Berg. Frieden, rechte Populisten, Handy- und Tätowierwahn – es gibt kaum ein Thema, das Bittlinger auslässt. Sein neuester Streich: „F-F-F – Fridays for Future“, ein Schunkel-Mitsinglied über die von Greta Thunberg ausgelöste Öko-Bewegung, sinnigerweise kinderchorfähig.
Bittlinger: „Mich rührt Greta Thunberg“
„Mich rührt, was die 16-jährige Schülerin da macht. Und wenn mich etwas bewegt, muss ich ein Lied darüber schreiben“, erklärt er. Mehr als 500 Lieder sind so entstanden. Auch vor Kritik an kirchlichen Missständen macht Bittlinger nicht halt. „Mensch Benedikt“: Unter diesem Titel schrieb er im Jahr 2007 einen musikalischen Brief an den damals amtierenden Papst, in dem er gut protestantisch den „Chef einer der Kirchen“ kritisierte. Als Pfarrer arbeitete Bittlinger da bereits für die Evangelische Kirche von Hessen-Nassau als Referent für Mission und Ökumene. Seine Papstkritik war also fundiert und nicht nur die Meinung eines Liedermachers.
Auch scheute er sich nicht, das Lied sozusagen in der Höhle des Löwen zu singen: mitten in Rom, in der dortigen evangelischen Kirche. Und dann noch auf dem Katholikentag in Osnabrück. Von papstkritischen Katholiken erhielt er Zuspruch. Katholische Fundamentalisten hingegen waren empört. Eine Wutwelle ergoss sich über Bittlinger. „Du dreckige Protestantensau“, er sei „vom Teufel besessen“, las er in Briefen und E-Mails – es gab sogar Morddrohungen. Ein Konzert musste unter Polizeischutz stattfinden.
Glaubensfundamentalisten würden das Fegefeuer für Bittlinger anheizen, meinte das Magazin Der Spiegel. Bittlinger war kurz irritiert. Letztlich aber, das weiß er wohl, macht ihn so etwas nur bekannter und nützt dem Absatz. Auf den Verkaufstischen bei seinen Konzerten stapeln sich die Waren. Seine Bücher tragen Titel wie: „Habseligkeiten – Eine Anleitung zum Glücklichsein“. Oder „Da wo ich bin, da will ich sein: Von der Freiheit, authentisch zu sein.“ Oder: „Jesus und Yoga – eine Spurensuche“. Außerdem unzählige CDs. Auch sie tragen Titel, die wie Lebensratgeber klingen: „Bleibe in Verbindung“, „Bitte frei machen“, „Atem – Klang der Seele.“ Eine DVD mit einem Konzertmitschnitt gibt es auch, sie heißt, klar: „Aufstehn, aufeinander zugehn“.
Wie lange er dieses Lied eigentlich noch singen will? „Bis man mich von der Bühne trägt oder mir gute Freunde sagen: ‚Allmählich wirst du peinlich‘“, antwortet er lachend – „und ich hoffe, dass ich dann nicht im Altersstarrsinn darauf beharre, trotzdem weiterhin aufzutreten!“
Uwe Birnstein ist ein in Bremen geborener Theologe, der ursprünglich einmal Pastor werden wollte, sich dann aber für den Journalismus und das Schreiben von Büchern („Margot Käßmann: Folge dem, was Dein Herz Dir rät“) entschied.