Es ist kaum zu hören, dass die Musik schon begonnen hat. Die Musiker sitzen alle noch nahezu regungslos auf ihren Stühlen. Nur von irgendwoher ein leises, gleichmäßiges Klopfen. Dann ein Rauschen, als würde Luft aus einem Fahrradschlauch entweichen: Die Bläser. Sie lassen die Luft durch ihre Oboen, Klarinetten und Trompeten strömen, ohne dabei einen Ton zu erzeugen. Für das Klopfen ist der Pianist verantwortlich, der auf den Rahmen des Flügels schlägt. Als die Streichinstrumente dazukommen, werden die Klänge kaum konkreter, aber facettenreicher. Die Musiker spielen Flageoletttöne, legen also den Finger nur leicht auf die Saite und erzeugen so einen glockenähnlichen Klang; sie streichen hinter dem Steg, wo die Saite nicht mehr schwingen kann und nur quietscht statt klingt; dann tippeln sie mit einer Kreditkarte auf den Saiten hinauf und hinunter.
Was etwas willkürlich aussieht und klingt, folgt einem genauen System. Der Dirigent gibt den Takt dazu, zeigt Einsätze und winkt ab. Das vierfache piano, was in den Noten mit „pppp“ vermerkt ist, müsse sich erkennbar vom dreifachen piano unterscheiden, sagt er: sehr, sehr leise ist eben doch noch etwas lauter als sehr, sehr, sehr leise. Doch die Musiker können auch anders, reißen plötzlich an der Saite, dass sie scheppernd aufs Holz knallt, oder kratzen mit dem Bogen derb auf ihr herum.
Das Frankfurter „Ensemble Modern“ probt gerade das Stück „riss III“ von Mark Andre. Der Komponist ist selbst bei der Probe dabei, hört zu, blättert in der Partitur, gibt den Musikern einige Hinweise dazu, wie er sich diese oder jene Passage gedacht hat. Viel hat er nicht anzumerken. Er ist begeistert vom Niveau des Ensembles und davon, wie perfekt vorbereitet die Musiker sind. Fast jedem, der ihn begrüßt oder in der Pause anspricht, umarmt er, bei jedem, der sich von ihm verabschiedet, bedankt er sich. Es ist, als fühle er sich geehrt, fast gerührt, dass jemand sein Stück aufführt. Ein Privileg sei das, eine große Ehre. „Die Musik ist zerbrechlich, fragil“, sagt der Erste Geiger über Andres Musik. „Sie baut unheimliche Spannung auf, ohne laut zu werden. Das ist einzigartig.“ Dem Komponisten selbst sagt er später auch noch, dass es großartig sei, sein Stück zu spielen.
Von der Anwesenheit Jesu inspiriert
Andre selbst beschreibt seinen Stil so: Er will die Musik beim Entschwinden beobachten, den Moment festhalten, in dem sich der Klang verflüchtigt. Dafür experimentiert er mit ganz anderen Klängen als denen, die üblicherweise aus einem Instrument kommen. Da streicht die Harfenistin mit einem weichen Paukenschlegel über die Saite und der Perkussionist mit einem Kontrabassbogen über Klangschalen oder mit Styropor über das Paukenfell. In einem Stück schnipst ein Musiker an den Dornen von Kakteen.
Der Komponist beschäftigt sich auf diese Weise mit einer geistlichen Thematik: Jesus entschwindet auf Golgatha aus dem Leben, aber er verlässt mit der Auferstehung auch das Grab. Dadurch habe er „eine andere Kategorie der Präsenz“ entstehen lassen. Als er seinen Jüngern später begegnet, verschwindet Jesus immer wieder vor ihren Augen – oder steht plötzlich im Raum. Dass Jesus gleichzeitig anwesend, aber nicht greifbar ist, ist für Andre eine „zentrale Kategorie des Evangeliums“, wie er sagt. Auch beim Abendmahl gebe es diese besondere Form der Präsenz von Jesus. Der Heilige Geist sei ebenfalls nicht greifbar: „Woher, wohin, er ist wie der Wind“, gibt Andre wieder, was Jesus im Johannesevangelium über das Wesen des Geistes sagt.
Diese Botschaft, die Verbindung der realen, irdischen Welt mit der transzendenten, ist für Andre eine „kompositorische Lehre“. Es ist ein Thema, das den evangelischen Christen persönlich beschäftigt. Und an dem er sich musikalisch abarbeitet. Auch sein Stück „riss“ hat damit zu tun: „Jesus wählte als Standort für sein Leben den Riss“, erklärt Andre. „Das Kreuz steht im Riss zwischen Himmel und Erde“ – zwischen Diesseits und Jenseits. Außerdem sei der Vorhang im Tempel zerrissen, als Jesus starb. Und er nennt noch ein Beispiel: Jesus lässt sich im Jordan taufen, am tiefsten Punkt der Erde, einem Riss zwischen zwei Kontinentalplatten.
Missverständliches Anliegen
Andre tritt nicht als Komponist geistlicher Musik auf oder als christlicher Musiker. Er schreibt Auftragswerke für Stiftungen, Opernhäuser oder andere Institutionen. Doch er kann nicht anders, als sich in seinen Werken mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen, weil die nun einmal sein Innerstes berühren. Andre trägt seinen Glauben nicht vor sich her, macht aber auch keinen Hehl daraus: „Ich werde permanent gebeten, über meine Stücke zu sprechen. Dann kann ich auf die religiöse Ebene nicht verzichten.“ Allerdings fühlt er sich oft missverstanden. Die einen sähen in seiner Musik etwas Religiös-Meditatives, andere verstünden sie als Sinnbild für die religiösen Themen. In Frankreich, Andres Heimat, werde seine Musik sogar als provokativ, als Missionsversuch wahrgenommen.
Doch all das will Andre nicht. Sein kompositorisches Anliegen ist es, mit Musik die Religion zu beobachten, über sie nachzudenken – in formaler Strenge, analytisch, systematisch. Diese Herangehensweise vergleicht Andre mit den Instrumentalwerken von Johann Sebastian Bach, etwa der „Kunst der Fuge“, oder den Sinfonien von Anton Bruckner: Das seien auch nicht explizit religiöse Stücke. Und doch hätten sie durch ihre musikalische Struktur eine zutiefst religiöse Ebene.
Auszeichnung aus dem „Haus der Christen“
Andre sucht oft nach den richtigen Worten, wenn er beschreibt, was sein Anliegen ist und was ihn beschäftigt. Seine Stirn liegt fast immer in Falten. Und er macht seinem Gegenüber deutlich, dass er dankbar ist, sich mitteilen zu dürfen. Fast für jede Frage bedankt er sich. Manchmal schiebt er ein „wenn ich das noch erwähnen dürfte“ hinter seine Antworten. Sein Haar ist wirr, als würde er sich beim Nachdenken die ganze Zeit mit der Hand durch den Schopf fahren, was er manchmal auch tut.
Andres Familie stammt aus dem Elsaß, studiert und promoviert hat er in Paris, später in Stuttgart. Man hört ihm den französischen Akzent deutlich an. Seit 14 Jahren lebt und arbeitet er in Berlin. Dort besucht er auch eine Kirchengemeinde. In seiner Wohnung stehen zahlreiche Instrumente, Trompete, Geige, Horn, Klarinette, Gitarre. Und natürlich ein Klavier. Auf dem spielt er für sich selbst gern Brahms und Bach. Auf den Instrumenten testet er auch, welche verschiedenen Klänge ihnen zu entlocken sind. Manchmal leiht er dafür auch Instrumente aus oder darf bei befreundeten Musikern probieren. Viele Ideen entstehen im Austausch und in der gemeinsamen Arbeit mit Musikern, etwa mit dem Klarinettisten Jörg Widmann, für den er das Stück „über“ geschrieben hat. In manchen seiner Werke setzt Andre auch Live-Elektronik ein. Dafür arbeitet er etwa mit dem Experimentalstudio des SWR zusammen.
Er hat bereits mehrere Musikpreise erhalten. Im November vergangenen Jahres kam der Kunst- und Kulturpreis der Deutschen Katholiken dazu. Das sei die höchste Auszeichnung für ihn, sagt Andre, weil sie aus dem „Haus der Christen“ kommt. Er bedauert es, dass die Kirche sich sonst bisher kaum interessiert zeigt für die Neue Musik. Wenn sie einen Auftrag hätte, er stünde zur Verfügung.
Andres Werke schöpften „motivisch aus einem explizit christlichen Bekenntnis“, begründet die Jury die Auszeichnung mit dem katholischen Preis. Das Bekenntnis spiegelt sich schon in den Titeln der Werke wider – wenn man die fragmentarischen Bezeichnungen zu deuten versteht. Einige seiner Werke sind schlicht mit Präpositionen überschrieben. In „…auf…“ thematisiert er die Auferstehung Jesu, „über“ spielt auf den Aaronitischen Segen an. Andere Stücke heißen „…zu…“ oder „…als…“, sie beschäftigen sich wie „…22,13…“ mit der Offenbarung.
Der Klang der Grabeskirche bei Nacht
2014 wurde seine Oper „Wunderzaichen“ uraufgeführt, die er im Auftrag der Stuttgarter Oper schrieb. Sie erzählt, wie der Humanist Johannes Reuchlin nach Israel reisen möchte. Doch weil er eine Herztransplantation hatte und das „Herz eines anderen“ trägt, wird er an der Passkontrolle am Flughafen festgehalten. Andre verarbeitet auch in dieser Oper christlich-religiöse Motive. Er ist selbst nach Israel gereist und hat mit einem Toningenieur Tonaufnahmen an Stationen von Jesu Leben gemacht, zum Beispiel nachts in der Grabeskirche. „Klangschatten“, wie er sagt, akustische Spuren der Präsenz des Heiligen Geistes. Systematisch hat er diese Klänge elektronisch bearbeitet und Strukturen herausgefiltert, um diese in seine Oper einfließen zu lassen. Wenn er Jesus selbst treffen könnte, was würde er ihn fragen? „Ich würde zuhören. Er hätte bestimmt viel zu sagen“, sagt Andre. „Und dann würde ich nachdenklich nach Hause gehen.“
Andre gilt derzeit als einer der gefragtesten Komponisten Neuer Musik. Er habe großen Respekt vor Komponisten, die sich mehr am klassischen Stil orientieren. Aber für ihn sei das nichts. „Es gibt riesige Meisterwerke in der klassischen Musik. Was könnte ich mit diesen Mitteln noch Neues beitragen?“ Andre übt sich in Bescheidenheit. Auch äußerlich könnte der 53-Jährige mit seinem schwarzen Kapuzen-Wollmantel, schwarzen Jeans, Rollkragenpulli und ausgetretenen schwarzen Sneakers mit weißer Sohle kaum unauffälliger sein. Am Schluss seines Stückes „riss III“ drehen zwei Musiker einen Schwirrbogen über ihren Köpfen. Ein auf einen Holzrahmen gespannter Gummi surrt dabei leise durch die Luft. Dann ist es still.
Von Jonathan Steinert