pro: Herr Karaca, wie haben Sie sich als zweiter Festspielleiter qualifiziert?
Abdullah Karaca: Es ist bei Festspielen ausschlaggebend, dass man Oberammergauer ist. Ich bin in Oberammergau geboren und aufgewachsen. Ich kenne den aktuellen Leiter der Passionsspiele, Christian Stückl, seitdem ich zehn Jahre alt war. Wir haben im Volkstheater sehr viel zusammengearbeitet, ich habe ihm assistiert. Wir verstehen uns sehr gut. Das ist eine gute Grundlage bei den Passionsspielen, dass man jemanden hat, mit dem man viel reden kann. Stückl stellt sein Team zusammen. Er will, dass die nächste Generation schon jetzt beteiligt ist. Da sind auch Beteiligte im Bereich Bühne und Kostüm dabei. Wenn die Passion 2020 gespielt wird, bin ich schon 31 Jahre alt, bei der darauffolgenden bin ich 41. Das ist das Schöne in Oberammergau, dass es ineinander fließt. Es gibt nicht die Alten und die Jungen, sondern jeder ist irgendwie daran beteiligt.Mit Ihrer Wahl zum zweiten Festspielleiter neben Christian Stückl geht für Sie ein Traum in Erfüllung. Warum?
Weil ich selber als zehnjähriges Kind bei den Oberammergauer Festspielen auf der Bühne stand. Mit den Passionsspielen habe ich erst begriffen, was wir in Oberammergau überhaupt schaffen alle zehn Jahre. Wir versuchen mit den Mitteln des Theaters die Leidensgeschichte Jesu auf die Bühne zu bringen, und das mit knapp der Hälfte der Einwohner von Oberammergau. Es ist ein Gemeinschaftsgefühl, diese Tradition weiterleben zu lassen. Dieses Gefühl hat mich immer wieder begleitet, bis ich mich entschieden habe, Regie zu studieren und jetzt wieder nach Oberammergau zurückzugehen für die nächsten Passionsspiele. Das ist ein Traum, da wieder hinzugehen. Ich war dazwischen als Regieassistent dort, aber für mich ist es etwas ganz anderes, an der Passion beteilgt zu sein.In welcher Rolle haben Sie als Schuljunge bei den Passionsspielen mitgewirkt?
Ich war im Volk dabei. Ich hatte keine explizite Rolle, sondern war ein Teil der Masse. Die Szene heißt „Einzug in Jerusalem“. Da singen die Kinder auch alle mit.Es gab Aufregung um Ihre Position wegen Ihres muslimischen Glaubens. Wie haben Sie diese wahrgenommen?
Ich wusste von Anfang an, dass mein Glaube ein Thema sein wird. Ich bin sehr locker damit umgegangen, weil ich kein Mensch bin, der seinen Glauben vor sich herträgt und damit erstmal einen Unterschied schaffen will. Ich gehe auf Menschen zu. Das Entscheidende ist für mich: Entweder ich kann etwas mit einem Menschen anfangen, oder nicht. Da ist mir egal, welche Religion er hat. So habe ich auch die Reaktionen aufgenommen. Wenn es negative Reaktionen gab, dann liegt das auch daran, dass Menschen mich nicht kennen. Aber es gibt eine grundlegende Skepsis oder Angst, dass Kritiker sagen: Muslimischer Spielleiter – was wird da passieren? Ich bin zweiter Spielleiter und Christian Stückl ist der erste.Sie haben sogar mit mehr Kritik gerechnet.
Ich habe mit mehr Kritik gerechnet aus dem einfachen Grund, dass man sich selber Gedanken macht und vielleicht alles noch mehr ausmalt, wie die Entscheidung ankommen wird. Ich wusste, dass es auch negative Kommentare geben wird. Ich dachte, dass das noch mehr sein kann. Ich bin sehr positiv überrascht, dass es nicht so ein riesiges Thema geworden ist. Die positive Reaktion, auch im Dorf, überwiegt.Sie wollen Ihren anderen Blick und Ihre Fragen in die Arbeit mit Stückl einbringen, sagten Sie in einem Interview. Was ist Ihr anderer Blick, was sind Ihre Fragen an die Passionsgeschichte?
Es wird sich noch herausstellen, wie Christian Stückl und ich zusammenarbeiten werden, noch haben wir mit der Arbeit nicht angefangen. Zum anderen Blick kann ich noch nicht konkret werden, kann ihn aber so beschreiben: Wir reden wahnsinnig viel über Religion, über meine Religion, über das Christentum an sich, über das Judentum. Das fließt sehr mit ein in die Inszenierung. Es geht nicht konkret darum: Das ist mein Blick, und der ist der richtige. Es geht um eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Stoff, mit der Figur Jesus.Wie ist denn Ihr Blick diesbezüglich?
Er ist nicht sehr verschieden zu dem, wie Christian Stückl Jesus in den Spielen sieht. Aber die Inszenierung Jesu ändert sich natürlich. 1990 hat er zum ersten Mal die Spiele geleitet. Da sieht man, wie diese Figur eher als ein Rebell auftritt, der laut war. Im Jahr 2000 sind es gelesene Sätze aus dem Matthäusevangelium, wo geschrieben steht, dass er die Stimme nicht erheben wird, die Taten mehr überwiegen als die Worte. Deswegen sieht der Zuschauer die Figur plötzlich anders, hat einen anderen Blick darauf und sagt, er ist nicht nur der Rebell. Ich bin selber noch auf der Suche danach, wie man so eine Figur, einen Propheten, den Sohn Gottes, greifen kann oder wie erklärt man es für sich selber. Wie kommt er bei mir an? Jesus ist für mich als Muslim ein Prophet. „Der Sohn Gottes“ ist natürlich eine andere Aussage, aber ich glaube, wenn wir uns darauf einigen können, Jesus Christus hat uns etwas sagen wollen und wenn wir das, was er sagt, ansatzweise umsetzen können, dann haben wir schon verstanden.Was bedeutet Ihnen die Passionsgeschichte persönlich, spielt sie in Ihrem Glauben eine Rolle?
Natürlich, die Leidensgeschichte Jesu ist sehr ausschlaggebend an sich. Ich finde sehr erstaunlich, was Jesus uns sagen wollte, das gilt für alle Menschen und ist universell. Wir vergessen aber immer wieder, dies zu leben. Wenn ich mir Gedanken mache, was gemeint war und was ich daraus mehr ziehen könnte, da spielt die Passionsgeschichte, das Leiden eine sehr große Rolle.Was ziehen Sie persönlich daraus?
Es ist mehr als eine Sache, aber ich gebe ein Beispiel. Ich studiere in Hamburg und habe dort ein Theaterprojekt gehabt. Ich habe den Spielern vorgeschlagen, gemeinsam in die Kirche zu gehen und eine Messe zu besuchen. Nach der Messe gibt man sich die Hand oder umarmt sich. Das Gefühl hat mich sehr überwältigt, weil ich mir dachte, das ist vielleicht das, was uns fehlt oder was wir noch nicht konsequent durchziehen können. Jesus ging offen durch die Welt, verurteilte Menschen nicht anhand von ihrem Aussehen, von ihrer Andersheit. Wir sollten eher das suchen, was uns vereint oder das, was uns ausmacht. Ich ziehe wahnsinnig viel daraus. Jesu Vergebung, die Barmherzigkeit, die Liebe, die Nächstenliebe war so groß.Die Passionsspiele in Oberammergau waren ursprünglich ein christliches Bekenntnis. Haben sie heute noch diesen Charakter oder sind sie einfach Theater?
Auf keinen Fall ist es nur ein Theaterstück. Es ist auf jeden Fall ein christliches Passionsspiel, was es immer war und auch bleibt. Es ist nicht nur irgendein Theater. Es ist nicht vergleichbar mit einem Shakespeare-Stück, es ist die Passionsgeschichte. Durch das Gelübde, zu dem es 1633 kam, ist es das. [Anm. d. Red.: Im Pestjahr 1633 fielen 80 Einwohner von Oberammergau der Seuche zum Opfer. Daraufhin gelobten sie, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen, wenn sie von der Pest befreit würden. Von diesem Tag an ist kein Pesttoter mehr verzeichnet.]Herzlichen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Martina Schubert. (pro)