Als am 7. Februar 2005 auf offener Straße in Berlin die 23-jährige Hatun Sürücü mit drei Schüssen in den Kopf ermordet wurde, war das für viele ein Weckruf. Ihnen wurde erst durch diese Tat bewusst, dass in ihrem Land die grausame Praxis der sogenannten Ehrenmorde ausgeführt wird – direkt vor ihrer Haustür. Der Mörder von Hatun Sürücü, die eigentlich überall nur Aynur („Mondstrahl“) genannt wurde, war ihr eigener Bruder, Ayhan. Er fühlte sich gemäß der muslimischen Tradition der Türkei, des Herkunftslandes der Familie, dazu verpflichtet, den „sündhaften“ Lebensstil seiner Schwester zu rächen.
Sandra Maischbergers Film „Nur eine Frau“ erzählt die Geschichte von Aynur sehr eindrücklich nach. Das Mädchen wuchs in einer streng-sunnitisch-kurdischen Familie auf und lernte zunächst, sich den uralten Regeln der Religion unterzuordnen. Doch sie wächst eben zugleich mitten in Berlin im modernen Deutschland auf, in dem komplett andere, vor allem freiere Gepflogenheiten herrschen. Die Konfrontation scheint programmiert.
Zwangsverheiratung und Patriarchat
Als Aynur 16 ist, wird sie nach Istanbul gebracht und dort mit ihrem Cousin zwangsverheiratet, den ihr strenggläubiger Vater für sie ausgesucht hat. Doch die Ehe wird für sie zur Hölle, und sie flieht 1999 wieder nach Berlin, wo sie versucht, sich ein eigenes, selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Sie erzieht ihren Sohn allein, sie jobbt und macht eine Ausbildung als Elektroinstallateurin.
Die beste Entscheidung der Filmemacher war, die Geschichte aus der Perspektive der Ermordeten selbst erzählen zu lassen. Dadurch sollte Aynur nicht erneut zu einem Opfer gemacht werden, erklärte Produzentin Maischberger gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Schnell wird dem Zuschauer das für westliche Augen vielleicht ungewöhnliche Wertesystem der kurdischen Familie deutlich: Das Wichtigste sind hier die Familie und ihre Ehre. Wird diese verletzt, sind quasi alle Mittel erlaubt, um sie wiederherzustellen. Deswegen stellt Aynur, die ihr Kopftuch ablegt, deutsche Freunde hat und ehelos mit einem Mann zusammenlebt, für die Familie auch eine so große Katastrophe dar. Sechs Gründe nennt die Darstellerin von Aynur im Off, die laut dem Bundeskriminalamt (BKA) in jener Gesellschaft einen „Ehrenmord“ rechtfertigen. Aynur erfüllt vier davon.
Dabei will sie eigentlich nur frei als Frau leben. „Und damit habe ich den Tod verdient“, sagt sie. Natürlich weist allein der Titel des Films auf ein weiteres Problem hin: Aynur wollte sich nicht der Rolle als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft fügen, die vor allem darauf zu achten hat, still zu sein und das zu tun, was die Männer um sie herum ihr sagen. Und somit ist „Nur eine Frau“ auch ein bedeutendes feministisches Plädoyer.
Eine Stärke des Films ist zudem, dass sie die Verzweiflung der Familie durchaus nachvollziehbar macht. Sie werden nicht als Monster dargestellt, die aus reiner Boshaftigkeit die eigene Tochter umbringen. Wenn Aynur die Haare offen trägt, sei das für ihre strenggläubige Familie in etwa so, wie wenn in einer deutschen Familie ein Familienmitglied plötzlich zum Nazi wird. Der Vater sitzt in der Moschee plötzlich allein, alle anderen wenden sich von ihm ab, seine eigenen Söhne halten ihn für einen Schwächling, weil er sich nicht gegen seine Tochter durchsetzen kann. Das rechtfertigt keinen Mord, die Zusammenhänge helfen aber beim Verstehen dieser grausamen Taten.
Immer noch zwölf Ehrenmorde pro Jahr
Immer wieder holen sich die Brüder Rat beim Imam in der Moschee. Der legt besonderen Wert auf das Befolgen des Koran. Natürlich dürfe man in Deutschland nicht einfach die Sünde eines Familienmitglieds mit dem Tod bestrafen, sagt er, aber wäre es ein muslimisches Land, wäre es sogar die Pflicht eines Muslims. Gemäß den uralten Regeln muss der jüngste Sohn der Familie die Ehre wiederherstellen, also „die Reinigung vollziehen“. Und so jagt Ayhan Sürücü am Abend des 7. Februar 2005 an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof seiner Schwester drei Kugeln in den Kopf. Dadurch gewinnt die Familie das zurück, was sie Ehre nennt, sagt Aynur im Off. Und verdeutlicht damit nur den Wahnsinn einer Tradition, die tatsächlich den Mord an einem Menschen als etwas weniger Schlimmes erachtet als etwa eine außereheliche Beziehung.
Sandra Maischberger sagte gegenüber dpa, sie selbst habe mit Religiosität „ganz wenig“ zu tun. Sie fügt hinzu: „Ich bin der Meinung, dass jeder leben und glauben sollte, wie und was er möchte, solange er nicht anfängt, anderen Vorschriften zu machen.“ Zu lange habe man sich in der Gesellschaft zu wenig darum gekümmert, was „unter dem Deckmantel von Religionsfreiheit“ an Fundamentalismus entstehe. Die 52-Jährige zitierte eine Studie des Bundeskriminalamtes, nach der es in Deutschland immer noch rund zwölf solcher Ehrenmorde im Jahr gebe.
Maischberger möchte den Film auch in Schulen zeigen und sagte dazu: „Ich will Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund erreichen, die sagen ‚Geht mich nichts an‘. Und natürlich auch die mit Migrationshintergrund.“ Maischberger moderiert seit 2003 eine Talksendung im Ersten, mit ihrer Produktionsfirma „Vincent TV“ arbeitet sie zudem an vielen Filmen. Mit ihrem Verein Vincentino organisiert sie Kulturprojekte an Schulen in Berlin.
Der Mord an Hatun Sürücü löste damals eine breite gesellschaftliche Debatte über Ehrenmorde aus. Und es ist gut und richtig, dass uns ein derart gut gemachter Film mit überzeugenden Schauspielern die Problematik erneut vor Augen führt. Zugleich ist „Nur eine Frau“ ein bedeutsames Porträt einer jungen Frau, die eine schwere Last auf sich genommen hat, um frei zu sein und um einem Leben zu entfliehen, das für sie Unterdrückung bedeutet hätte.
„Nur eine Frau“, Kinostart: 9. Mai 2019, 90 Minuten
Von: Jörn Schumacher