Ein junger Franzose verliebt sich in eine muslimische Jugendfreundin. Im Internet sehen die beiden Videos radikaler Glaubensbrüder – und beschließen, selbst in den Dschihad zu ziehen. Über die Türkei soll es nach Syrien gehen, dort will Alex (Kacey Mottet Klein) sich im Umgang mit Waffen schulen lassen. „Was machst du, wenn ich sterbe?“, fragt er seine Freundin Lila (Oulaya Amamra) in einer Szene. „Ich werde stolz sein“, antwortet diese. Ein letztes Mal will Alex seine Großmutter Muriel (Catherine Deneuve) besuchen. Seine Mutter ist bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen. Seitdem ist Muriel die wichtigste Verwandte in seinem Leben. Muriel leitet eine Reitschule in Frankreich und kommt den Plänen ihres Enkels rasch auf die Schliche. Mithilfe eines ihr bekannten Syrienrückkehrers will sie Alex umstimmen.
Regisseur André Téchiné erzählt die Geschichte von Muriel und Alex in ruhigen Tönen und ohne jegliche Effekthascherei. Innerhalb der ersten halben Stunde weiß der Zuschauer über die Motive und die Pläne der Protagonisten Bescheid – und ab da überrascht „L’adieu à la nuit“ (Der Abschied von der Nacht) leider an keiner Stelle mehr. Das liegt vor allem daran, dass sich Künstler, Journalisten und auch die Politik seit Jahren an der Frage der Radikalisierung europäischer junger Männer abarbeiten. Kein Film dieser Welt könnte noch authentische und zugleich überraschende Antworten auf die Frage geben, warum sich gut situierte westlich sozialisierte Studenten dem radikalen Islam zuwenden. Die einzige spannende Frage, die sich Zuschauer im Verlauf des Films noch stellen können ist diese: Schafft Alex es nach Syrien? Oder scheitert er schon vorher?
Liebe als Brandbeschleuniger
So erscheinen auch Alex‘ Motive für den Weg in den Dschihad ebenso einleuchtend wie bekannt: Er ist traumatisiert vom Tod der Mutter, entwurzelt, der Vater lebt mit einer anderen Frau zusammen und hat Kinder mit ihr. Alex war in psychologischer Betreuung. Wie viele andere sucht er offenbar nach einem klaren Lebensweg für sich, sehnt sich nach Regeln, Grenzen und einem neuen Leben. Auch die Abgrenzung zur Familie spielt wohl eine Rolle, in einer Szene erfahren die Kinobesucher, dass Alex heimlich seinen eigenen Vater verdächtigt, den Tod der Mutter verursacht zu haben. Die Liebe zur Salafistin Lila gibt letztlich den Ausschlag.
Aufschlussreich ist ein Gespräch Muriels mit dem ehemaligen Terroristen Youssef (Mohamed Djouhri). Er hatte sich einst nach einem Gefängnisaufenthalt in der Reitschule beworben, wurde aber von Muriels Mann abgelehnt. Nun greift sie den Kontakt wieder auf. „Sie sind überall“, sagt er über die Verbreitung des radikalen Islam. Er selbst sei ein Niemand gewesen, bevor er zum Islamist wurde. „Man war plötzlich attraktiv“, erinnert er sich an sein Motiv. Wegen islamistischer Postings habe er Likes auf Facebook bekommen und Heiratsanträge von Frauen. „Ich wollte ein neues Leben“, sagt er.
Dass dieses neue Leben in Syrien keineswegs so war, wie er es sich vorgestellt hat, versucht er auch Alex zu erklären. Erreichen kann er ihn nicht. Zu sehr sind er und Lila umgarnt vom Mythos, dass dort jeder ein Held werden könne. Alex träumt von Waffen, Lila erliegt den Schwärmereien anderer islamischer Frauen über das gute Leben an der Front, sogar Gucci-Handtaschen soll es dort für die treuen Islamistengattinen geben. Einmal fragt Muriel ihren Sohn, warum er sich dem Islam zugewandt habe: „Religion gibt einem Hoffnung“ antwortet er. Das klingt schlüssig und wirft doch eine Frage auf, die der Film nicht berührt: Warum muss es ausgerechnet der radikale Islam sein, der Hoffnung gibt? Im Grunde gibt „L’adieu à la nuit“ Christen ein starkes Motiv, evangelistisch zu sein. Denn nur wenn auch sie offenherzig und mutig Sinnangebote machen, haben Suchende die Chance, ihre Hoffnung nicht allein bei Radikalen finden zu wollen.
L’adieu à la nuit, André Téchiné, 2019, 104 Minuten
Von: Anna Lutz