Die Siamesischen Zwillinge im Londoner Krankenhaus sterben, wenn sie nicht umgehend operiert werden. Die Deformation des einen Zwillings bedroht auch das Leben des anderen. Die erfahrene Familienrichterin Fiona Maye (Emma Thompson) muss entscheiden, ob die beiden gegen den Willen der katholischen Eltern getrennt werden – und so eine große Möglichkeit besteht, dass zumindest ein Kind überlebt. Die Eltern wollen nicht, dass in Gottes Bestimmung eingegriffen wird. Maye ordnet die Operation aber gerichtlich an. Die lebenswichtigen Entscheidungen der Richterin im Film „Kindeswohl“, der aktuell in den deutschen Kinos läuft, hätten auch den biblischen König Salomo vor eine Herausforderung gestellt.
Aber Maye argumentiert nicht mit Gottes Wort, sondern beruft sich in ihren Urteilen auf das britische Recht. Als Familienrichterin am High Court in London spielt dabei der Paragraf zum sogenannten „Children Act“ – so der Originaltitel des adaptierten Ian-McEwan-Romans – eine entscheidende Rolle: „In jeder Frage der Sorge für die Person eines Kindes hat das Wohl des Kindes dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen.“ Dieser Grundsatz wird gleich mit ihrem nächsten Fall wieder an die Grenzen seiner Belastbarkeit geführt.
Eltern argumentieren mit Genesis, Leviticus und Apostelgeschichte
Der fast volljährige Adam Henry (Fionn Whitehead) ist an Leukämie erkrankt. Er und seine Eltern sind Zeugen Jehovas. Um zu überleben, sehen die Ärzte als einzige Möglichkeit eine Bluttransfusion an. Sie müssen ihm verschiedene Medikamente geben, von denen einige besonders aggressiv auf den Körper wirken. Er bräuchte frisches Blut, weil sein Körper selbstständig kaum noch neues Blut produziert. Die Eltern verweisen aber auf Bibelstellen in Genesis, Leviticus und in der Apostelgeschichte: Bei Gott stehe Blut für das Leben. Darin befinde sich auch die Seele des Menschen. Deswegen lehnen sie die Behandlung ihres Sohnes ab.
Als Richterin Maye den Jungen im Krankenhaus besucht, ist er bleich und selbst überzeugt, dass eine Transfusion für ihn nicht in Frage kommt. Gleichzeitig stellt sie aber auch eine unstillbare Wissbegier und Lebenslust bei ihm fest. Was bedeutet es, in das Leben eines Menschen so drastisch einzugreifen, dass es gegen seine Glaubensgrundsätze verstößt? Was würde mit diesem Menschen passieren? Wie würden sich seine Eltern und seine Gemeinde nach einer Bluttransfusion zu ihm verhalten? Und umgedreht gedacht: Was bedeutet es für Eltern, den eigenen Sohn sterben zu lassen, obwohl es eine Heilungsmethode gibt? Kann das der Wille Gottes sein? Filme können darauf keine Antwort geben. Wenn sie gut sind, formulieren sie aber in Bildern und Dialogen die Fragen so genau, dass der Zuschauer sich auf die Reise nach den Antworten begibt.
Gerichtsdrama und Charakterporträt einer Karrierefrau
Der von den Medien aufgebauschte Gerichtsprozess um den Fall ist dabei interessanterweise nur der Auftakt des aufwühlenden Dramas. Denn parallel zum Schicksal des Jungen zeichnet der britische Regisseur Richard Eyre („Iris“, „Tagebuch eines Skandals“) ein feines, genau beobachtetes Charakterporträt einer Karrierefrau. Einerseits schildert er Maye als höchst intelligente Könnerin ihres Fachs, die jedes rechtliche Schlupfloch kennt und souverän die Klaviatur ihrer richterlichen Autorität spielt. Zuhause ist sie aber geistig praktisch nicht existent.
Ihr Ehemann Jack (Stanley Tucci), der die genaue Anzahl der Tage weiß, wann sie das letzte Mal zusammen geschlafen haben, greift deshalb zu einer drastischen Maßnahme: Der Philosophie-Professor kündigt ihr gegenüber offen eine Affäre an – teils will er sie damit aus der Reserve locken, teils ist es sein Eingeständnis, dass sie sich emotional schon vor langer Zeit aus der Beziehung verabschiedet hat. In einer seiner Vorlesungen sagt der Professor einmal: Die Zeit, als der Glaube an die griechischen Götter verblasste und noch nicht Jesus Christus aufgetaucht war, sei eine Zeit des klarsten Denkens der Menschen gewesen. Ob seine Idee zu der Affäre zu diesen klaren Gedanken gehört, mag dahin gestellt sein.
Jedenfalls bringt der Film „Kindeswohl“ verschiedene komplexe Thematiken gekonnt zusammen. Die britische Schauspielerin Emma Thompson, die in diesem Sommer den Ehrenpreis des Filmfests München erhalten hat, spielt diese Richterin lustvoll und subtil – bis in ihre emotionalsten Abgründe hinein. Der Fall des jungen Adam wirkt bei ihr lange nach. Ihre so kompetente Figur bewertet das Leben eines Menschen höher als seine Würde. Gleichzeitig kann aber auch ein Mensch das Beste für einen anderen Menschen wollen und trotzdem sein Leben zerstören. Auch davon erzählt der Film „Kindeswohl“.
„Kindeswohl“, Regie: Richard Eyre, 105 Minuten, freigegeben ab 12 Jahren, seit dem 30. August in den deutschen Kinos.
Von: Michael Müller