Das Überraschendste am französischen Berlinale-Wettbewergsbeitrag „Das Gebet“ (La Prière) ist nicht seine Handlung, die Schauspieler oder die Kulisse. Was diesen Film des Regisseurs Cédric Kahn so spannend macht, ist, dass er gänzlich ohne Kirchenkritik auskommt. Wer das Festival kennt, weiß, dass das bemerkenswert ist. Man erinnere sich etwa an Beiträge wie „Kreuzweg“ oder „El Club“, die beide preisgekrönt aus der Veranstaltung hervorgingen und jeweils auf ihre Weise das Thema Missbrauch in der Kirche aufgriffen. „Das Gebet“ hingegen wirft einen positiven Blick auf eine fromme Gemeinschaft, lässt den Zuschauer an den strengen Abläufen einer Kommunität teilhaben, urteilt aber nicht darüber, sondern zeigt ganz im Gegenteil die heilsame Kraft des Gebets auf.
Der Film erzählt die Geschichte des jungen Thomas (Anthony Bajon). Der Heroinsüchtige findet Zuflucht in einer katholischen Lebensgemeinschaft in den französischen Bergen. Gebet, Arbeit und Freundschaft sind die einzigen Dinge, die hier etwas zählen. Das gibt ihm der leitende Geistliche schon am Tag seiner Ankunft zu verstehen. Alkohol, Drogen und Frauen sind tabu. So verbringt Thomas seine Zeit fortan damit, Misthaufen zu entfernen, Kreuze zu tischlern oder Löcher im vereisten Feld zu graben, die er anschließend wieder zuschüttet. Ob die Arbeit einen Sinn ergibt, spielt keine Rolle. Die körperliche Ertüchtigung auf dem Weg zur Heilung sehr wohl.
Arbeit, Gebet, Freundschaft
Doch das ist nicht das einzige Geheimnis der christlichen Gruppe voller ehemaliger Drogensüchtiger. Frühgebete, gemeinsame Gesänge, Glaubensbekenntnise und Gottesdienste strukturieren den Tag. Was Thomas am Anfang noch skeptisch beobachtet, wird ihm nach und nach zum Anker, bis er schließlich die Pslamen auswendig kann und seine Bibel sogar zum Arbeitseinsatz mitnimmt. Er sei sich nicht sicher, ob er nun gläubig sei, sagt Thomas an einer Stelle des Films. Aber: „Das Beten hilft mir, es beruhigt mich.“ So wie ihn erleben die Zuschauer viele Figuren der Geschichte: In Glaubensdingen nicht sicher, aber wissend, dass die christliche Lebensweise geholfen hat, ihr Schicksal zu wenden.
Da ist etwa Thomas‘ bester Freund Pierre (Damien Chapelle), der bekennt: „Ich habe Gott nie gesehen.“ Auch nach vier Jahren in der Gruppe zweifle er immer wieder. Doch er bete auch um ein Zeichen und hin und wieder geschähen Kleinigkeiten, die ihn im Glauben bestärkten. In dieser Zuflucht mitten in der Natur ist kein Einwohner perfekt, weder in seiner Lebensführung noch in seiner Beziehung zu Gott. An der Annahme durch die Gemeinschaft ändert das nichts. Und auch nicht daran, dass alle Männer bedingungslos und mit geradezu verbissener Nächstenliebe füreinander einstehen.
Zweifler auf dem Weg zur Heilung
Festivalchef Dieter Kosslik hatte bereits im Vorfeld der Eröffnung angekündigt, das Thema Religion werde neben Emigration einer der Schwerpunkte der diesjährigen Berlinale sein. Dass sich dies in einem derart ungetrübten Zugang äußert, ist erfreulich. Thomas, der wohl nicht umsonst den Namen des zweifelnden Jüngers aus der Bibel trägt, bekommt am Ende des Films seine Gottesbegegnung. Zu einem frommen Mann macht ihn das nicht automatisch. Es bleibt dem Zuschauer überlassen, seinen Weg zu bewerten, der Film selbst verkneift sich jede Deutung.
Teile des Publikums mögen sich nach Ansicht von „Das Gebet“ darin bestätigt sehen, wenn sie fromme Gemeinschaften mit ihren klaren Regeln und Strukturen für sonderbar halten. In der Tat kann man darüber schmunzeln, wenn ein Dutzend gestandener Männer in einem Gruppenraum christliche Schmonzetten mit Gitarrenbegleitung zum Besten gibt und sich daran erfreut wie heutige Jugendliche an einem Bruno Mars-Konzert. Wer hingegen einem Glauben anhängt, verlässt den Kinosaal vielleicht ermutigt. Doch egal, welche Sicht der Zuschauer auf das Thema Religion hat, der Film lässt keinen Zweifel daran, dass Glaube in existentiellen Situation zu helfen vermag. Und dass dabei vielleicht auch Gott seine Finger im Spiel hat.
Von: Anna Lutz