Warum drohen orthodoxe Russen damit, Kinos wegen eines Spielfilms in Brand zu setzen? Was stört sie an dem Historienwerk „Mathilde“ über Zar Nikolaus II., der am 2. November in den deutschen Kinos anläuft? Und wieso hatte der deutsche Hauptdarsteller Lars Eidinger so viel Angst, dass er nicht zur russischen Premiere am 23. Oktober in St. Petersburg reiste?
Nikolaus II. war der letzte Zar Russlands. Vor 100 Jahren dankte er wegen der Februarrevolution ab. Bolschewisten ermordeten ihn und seine Familie am 17. Juli 1918 in Jekaterinburg. In der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau sprach die russisch-orthodoxe Kirche ihn mitsamt seiner Frau und ihren Kindern am 20. August 2000 heilig. Weiteren 1.100 Geistlichen und Mönchen, die unter der Sowjetherrschaft für ihren Glauben gestorben waren und deshalb von der Kirche als Märtyrer angesehen werden, kam die selbe Ehre zuteil.
Jahrelange Diskussion zur Heiligsprechung
Die Bischofskonferenz der russischen Kirche hatte jahrelang über die Entscheidung gestritten, die Zarenfamilie heilig zu sprechen. Die Kritiker behaupteten, dies würde die Grenze zwischen einer Ermordung aus politischen Gründen und einem Märtyrertod verwischen. Der Kompromiss besagte, dass die Kirche nur den im Glauben ertragenen Tod als Märtyrer, aber nicht die umstrittene politische Herrschaft Nikolaus‘ würdigte. In Jekaterinburg, wo die Zarenfamilie ermordet wurde, steht heute zu ihrem Gedenken die „Kathedrale auf dem Blut“.
Der Film „Mathilde“ thematisiert die Affäre zwischen dem Zaren Nikolaus II. (Lars Eidinger) und der polnischen Ballerina Mathilde Kschessinskaja (Michalina Olszanska). Sie war der damalige Star im berühmten Mariinski-Theater in Sankt Petersburg. Die Affäre ist historisch belegt. Im Film wird die Liebe zum staatstragenden Konflikt, weil die Polin die Heirat Nikolaus‘ mit der hessischen Prinzessin Alix (Luise Wolfram) gefährdet.
Ein kindischer, selbstsüchtiger Film-Zar
„Mathilde“ ist altmodisches, opulentes Kostümkino für die Sinne. Die Kamera fährt durch den Zarenpalast in Sankt Petersburg, beobachtet die Balletttänzerinnen im Bolschoi- und im Mariinski-Theater und wohnt der Krönungszeremonie in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale bei. 25 Millionen Dollar haben sich die Produzenten diese Ausstattungsorgie kosten lassen. Lars Eidinger lernte extra Russisch für die Rolle, musste dann aber doch nachsynchronisiert werden.
Sein junger Zar Nikolaus ist als Figur ungestüm, selbstsüchtig und etwas kindisch gezeichnet. Vertraute rufen ihn schlicht Niki. Der zu frühe Tod des überlebensgroßen Vaters Alexander III. (Toll: Sergey Garmash) brachte ihn in eine Machtrolle, die ihn vor allem emotional überfordert. Nicht das Schicksal seines Landes hat er im Kopf, sondern den bewusst verrutschten Träger der polnischen Balletttänzerin. Sein Vater sagt einmal, Nikolaus sehe zwar aus wie ein Mann, sei aber immer noch ein Junge.
Tatsächlich erscheint der Herzschmerz im Film zwischen Nikolaus, seiner deutschen Ehefrau und der polnischen Affäre letztlich wie eine Fußnote, wenn bei der übertrieben geplanten Hochzeit mit Alix von Hessen, die zum orthodoxen Glauben konvertiert ist, ein großes Unglück passiert.
Aktivisten-Gruppe „Christlicher Staat“
Im Herbst 2016 begann die Kampagne der Aktivisten-Gruppe „Christlicher Staat“ gegen den Film: Autos wurden vor dem Büro des Anwalts von Regisseur Uchitel in Moskau angezündet, Kinobesitzer erhielten Drohbriefe, die im Falle der Aufführung Brandstiftung ankündigten. Am 31. August warfen Unbekannte Brandsätze auf das St. Petersburger Gebäude, das Uchitels Filmstudio beheimatet.
Dem Regisseur warfen die Kritiker „Verletzung religiöser Gefühle“ und das „Beschmutzen des Andenkens eines Heiligen“ vor. Die Parlamentsabgeordnete Natalja Poklonskaja diffamierte Eidinger als Pornodarsteller. Einige der wichtigsten russischen Kinoketten wie The Cinema Park oder die Formula-Kino-Gruppe kündigten zwischenzeitlich an, „Mathilde“ nicht in ihren Sälen zu zeigen. Sie müssten an die Sicherheit der Kinobesucher denken. Die russische Regierung verurteilte die Drohbriefe.
Eidinger: Es bricht mir das Herz
Eine Wissenschaftler-Gruppe legte sogar ein 39-seitiges Papier vor, dass den Film aufgrund des Drehbuchs und des Trailers als „inakzeptabel“ analysierte: Die polnische Schauspielerin Michalina Olszanska, welche die Ballerina darstellt, sei beispielsweise viel zu vulgär angelegt, weil sie wie ein Pornostar agiere. Dazu sei die Schauspielerin viel zu hübsch für die Rolle. Das historische Vorbild habe schiefe Zähne gehabt.
In einer E-Mail an seinen russischen Regisseur Uchitel erklärte Hauptdarsteller Eidinger sein Fernbleiben der russischen Premiere: „Glaube mir, es bricht mir das Herz, aber ich habe eine Verantwortung gegenüber meiner Frau und meiner Tochter.“
Die Geschichte um „Mathilde“ ist letztlich spannender als der Film selbst. Der ist zwar auch sehenswert und eigentlich zu züchtig, um die Gemüter wirklich zu erhitzen. Zumal angedrohte Brandanschläge ganz sicher der falsche Ansatz sind, um sich mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen, weil die Thematisierung übel aufstößt. Aber die Reaktionen auf den Film spiegeln ein aktuelles Gesellschaftsbild Russlands wider. Die Identitätssuche aus Teilen der Bevölkerung führt die Menschen leidenschaftlich zur Religion oder historischen Persönlichkeiten zurück, die eine Zeit vor dem Kommunismus repräsentieren.
„Mathilde“, Regie: Aleksey Uchitel, 109 Minuten, freigegeben ab 12 Jahren, ab 2. November in den deutschen Kinos.
Von: Michael Müller