Ein Sonderkommando der Polizei stürmt nachts das Haus in einem französischen Ort. Die Eliteeinheit nimmt ein Mädchen fest. Die Tochter wirft ihrem Vater einen kalten Blick zu. Ihm stehen Ratlosigkeit und Unverständnis ins Gesicht geschrieben: Seine Tochter Sonia plante einen Anschlag in Frankreich. Bereits die erste Szene des Films „Der Himmel wird warten“ ist mit Spannung beladen. Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar führt direkt in das Thema der Radikalisierung von europäischen Teenagern ein. Im Fokus stehen die 16-jährige Mélanie und die 17-jährige Sonia, zwei Teenager aus Frankreich.
Strategisch radikalisiert
Mit gezücktem Ticket für die Reise nach Syrien stehen sie an zwei unterschiedlichen Flughäfen in Frankreich. Sie sind entschlossen, in den Dschihad zu ziehen. Diese Entscheidung ist nicht spontan gefallen. Zwei parallele Erzählstränge geben Einblick in das Leben von Mélanie und Sonia, die über soziale Medien mit Islamisten in Kontakt gekommen sind. Sonia hat sich bereits dem Islamismus verschrieben. Sie will ihrer Familie einen Platz im Paradies sichern. Dafür ist sie bereit, ihr Leben zu opfern. Der Zuschauer erfährt im Laufe des Films aber auch, wie Sonia durch professionelle Hilfe wieder zurück ins „normale“ Leben findet.
Mélanie durchläuft den entgegengesetzten Prozess: weg vom bürgerlichen Idyll in Paris, hin zum Dschihad nach Syrien. Sozial engagiert, gute Noten in der Schule, ein solider Freundeskreis – alles ändert sich, als ein Unbekannter auf Facebook Mélanies Vertrauen gewinnt. Er macht ihr Komplimente, zeigt Verständnis, ermutigt die Teenagerin und liefert mit YouTube-Videos Erklärungen zum Weltgeschehen. Schleichend findet die Stimme des Islamisten immer mehr Gehör bei Mélanie.
Der Mann will, dass Mélanie nach den Regeln des Islam lebt. Die Anforderungen sind hart und strikt. Doch meint Mélanie, dadurch Halt zu gewinnen. Liebesgefühle für den Mann weichen allmählich der Trauer um die verstorbene Großmutter. Die Abhängigkeit zu dem Geliebten wächst. Druck und Zwang von außen, sowie Angst und Hass in ihr nehmen immer mehr zu. Doch die Teenagerin setzt sich dem Gesprächspartner weiterhin aus. Die junge Französin wird radikaler und schottet sich von der Außenwelt ab. Sie verschließt sich, wird kühl und aggressiv. Mélanie fühlt sich in Frankreich immer weniger dazugehörig und verstanden, von dem Mann in Syrien dafür umso mehr. „Ich hasse Frankreich!“, sagt sie. Über diese Worte freut sich der Islamist. Er verspricht, für sie zu sorgen, wenn sie in den Nahen Osten kommt.
Ein schleichender Prozess
Warum ziehen Mädchen in den Dschihad? Mädchen, die wohlbehütet in Frankreich aufgewachsen sind. Warum radikalisieren sich Jugendliche und junge Erwachsene? Was veranlasst sie, ihr Leben komplett umzustellen und alles hinter sich zu lassen, um in den Dschihad zu ziehen? Diese Fragen stellen sich sowohl die Eltern im Film, als auch die Zuschauer im Kinosaal. Die verschachtelte Erzählweise mit parallelen Strängen und Zeitebenen sind anfangs nicht nachvollziehbar. Im Rückblick fügen sich jedoch viele Puzzleteile zusammen: Erzählstränge treffen sich und der Zuschauer sieht, wie die Schicksale zusammenhängen. Im Laufe der Handlung bekommt der Zuschauer einen Einblick in die Strategien zur Rekrutierung junger IS-Kämpfer. Er ertappt sich mitunter selbst, wie er den Prozess nachempfinden kann. Die Regisseurin Mention-Schaar beleuchtet sowohl den Einstieg in die Isolation, als auch den Ausstieg aus ihr. Mit den Schauspielerinnen Noémie Merlant (Sonia) und Naomi Amarger (Mélanie) arbeitete sie bereits 2014 für den Film „Die Schüler der Madame Anne“ zusammen.
In das Leben als Dschihadist einzusteigen ist ein schleichender Prozess, wieder auszusteigen bedarf viel Engagement. Bindeglied zwischen angeworbenen Mädchen und ihren Eltern, sowie dem Leben als „Dschihad-Braut“ und dem „normalen“ Leben, ist die Therapeutin Dounia Bouzar. Sie spielt sich in dem Film selbst. Sowohl auf der Leinwand, als auch im echten Leben begleitet die muslimische Seelsorgerin Familien, deren Kinder sich dem Dschihad verschrieben haben. Sie gibt Hilfestellung, Hintergrundinformationen und unterscheidet zwischen dem Islam und Dschihad.
Der Zuschauer ist gefordert
„Der Himmel wird warten“ startete am Donnerstag vor einer Woche in den deutschen Kinos. Der Film bietet reichlich Stoff zum Nachdenken. Was in den Köpfen der Kinder vor sich geht, sei komplex und nicht einfach nachzuvollziehen, meint ein Journalist in dem Film. Was wir verstehen, sei aber lediglich Stückwerk. Der Film stellt das schwer greifbare Thema nicht vereinfacht dar. Doch es wird nachvollziehbarer, wie junge Frauen in die Fänge des IS geraten. Der Zuschauer wird Schritt für Schritt in den Prozess hineingeführt. Der Film wirft einen lebensnahen Blick hinter die Kulissen der Rekrutierungsstrategie. Europäische Jugendliche ziehen in den Dschihad und sind bereit, Anschläge durchzuführen – ein aktuelles Thema. Sehenswert für Eltern und Teenager. Der Film schreckt auch ab. So kann er vielleicht vorbeugen, dass sich mehr Jugendliche radikalen Islamisten anschließen.
Der Handlungsverlauf und das Thema fordern den Zuschauer emotional heraus. Der Film zeigt Ängste und Trauer, Anklage und Wut – damit haben sowohl die Eltern, als auch die Kinder zu kämpfen. Die Schauspieler präsentieren ihre Rollen glaubwürdig und authentisch. Sie nehmen den Zuschauer in die gefühlsstarke Welt der Teenager und die verzweifelte Situation der Eltern mit hinein. Der Film ist nichts für schwache Nerven. Durch die schauspielerischen Leistungen, Kameraführung und Detailgenauigkeit von Gebetsregeln oder des Prozesses der Rekrutierung, wirkt der Film zum Teil sogar dokumentarisch. (pro)
Von: csc