In „Jeanne d’Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige“ (399 Seiten, Verlag C.H.Beck) erzählt Gerd Krumeich die fesselnde Geschichte von jenem jungen Mädchen, das Kriegsherren in die Knie zwang und den König von Frankreich sowie ganz Europa beeindruckte. Jeanne d’Arc oder Johanna von Orleans, wie sie im Deutschen genannt wird, führte die Spitze der Armeen des Königs im Kampf gegen die Engländer an. Erfolgreich. Bis zu ihrem eigenen tragischen Ende.
Krumeich ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er hat bereits seine Habilitationsschrift über Jeanne d’Arc verfasst, sein Buch richtet sich aber bewusst nicht nur an ein Fachpublikum; er schreibt auch für nur durchschnittlich historisch Gebildete fesselnd. Allerdings sind die knapp 400 Seiten alles andere als eine abendliche Erbauungslektüre für Christen. Krumeich geht auf die theologischen Fragen zu Jeanne d’Arc kaum ein, ihm geht es um die historischen Zusammenhänge und die Einordnung der vielen Quellen. Dennoch erfährt der Leser hier viel Wissenswertes über die religiösen Hintergründe jener Zeit und wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet die Kirche eine junge Frau zum Tode verurteilte, die mit so viel religiösem Sendungsbewusstsein auftrat und so viele Menschen mit ihrem schlichten, aber starken Glauben an Gott ansteckte.
Innere Stimmen und Faszination für Jesus
Jeanne d’Arc, das junge Mädchen aus einem Dorf in Lothringen, das die Weltgeschichte beeinflusste, gehört noch heute zum kollektiven Gedächtnis der Franzosen. Am 6. Januar 2012 gedachte Staatsoberhaupt Nicolas Sarkozy mit großer Zeremonie in Vaucouleurs, wo Jeanne 1429 zu ihrem Befreiungskampf gegen die Engländer aufgebrochen war, ihres 600. Geburtstages. Jedes Jahr am 8. Mai wird in Orleans die Befreiung durch die Jungfrau als Volksfest gefeiert. Das Buch „Saint Joan“ von George Bernard Shaw, Bertolt Brechts „Der Prozess der Jeanne d’Arc in Rouen 1431“ sowie Carl Theodor Dreyers Stummfilm aus dem Jahre 1928 beleuchten das Phänomen eines frommen Mädchens, das nur durch seinen Glauben an Gott im wahrsten Sinne des Wortes die Welt veränderte.
In Krumeichs Buch lernt der Leser viel über das Gottesbild zur Zeit des Hundertjährigen Krieges, das zum Verständnis der Vorfälle vonnöten ist. Jeanne d’Arc wurde wahrscheinlich im Jahr 1412 in Domrémy geboren; ihr Geburtshaus steht erstaunlicherweise noch heute. „Im Allgemeinen war man damals fest davon überzeugt, dass Gott im strengen Sinn allgegenwärtig ist und dass er, der alles kann, jederzeit fähig ist, etwa eine Eiche mit einem Schilfhalm zu kappen, wenn er denn so will“, schreibt Krumeich. „Von daher waren Seherinnen und Seher zwar in Grenzen erstaunlich, doch durchaus zum Alltag und Denkhorizont gehörig.“ Als Seher wurden und werden Personen bezeichnet, die besondere religiöse Erlebnisse in Form von Visionen haben.
Jeannes Verdienst war es vor allem, dem französischen Königtum unter die Arme zu greifen, das permanent in einer Auseinandersetzung mit England stand, das die Herrschaft auch über Teile Frankreichs beanspruchte. Aus ihrem ideologischen Rückhalt und den ihr zu verdankenden militärischen Erfolgen erwuchs zudem ein neues Nationalbewusstsein der Franzosen. Bereits im Alter von 13 Jahren hörte Jeanne, „ein aufgewecktes Bauernmädchen“, das häufig in die Kirche ging und mit Inbrunst betete, die Stimme Gottes oder von Engeln. Sie verdiente sich den Respekt des Königs Karl VII. und wurde schließlich zur wichtigen Heerführerin. Im „Engländerbrief“, den sie 1429 diktierte (Jeanne konnte weder lesen noch schreiben), stellt sie ihre unmissverständliche Forderung an die Engländer auf: Die Besatzer sollten Frankreich verlassen, ansonsten werde sie sie mit Waffengewalt aus dem Land treiben. Ein neues Nationalgefühl bildete sich, schreibt Krumeich, und das habe sich auch in den verschiedenen Formen neuer Religiosität geäußert, „und Jeannes Gläubigkeit und Selbstvertrauen passten durchaus in ihre Zeit“. Krumeich weiter: „Die Entwicklung der Volksfrömmigkeit, die neue Betonung des individuellen Glaubens, die Erwartung schließlich, dass Gott ein Wunder tun werde, um das französische Königtum zu retten: All dies war so stark verbreitet, dass Jeannes Anspruch, Gott habe sie zur Rettung Frankreichs erwählt, ihren Zeitgenossen glaubwürdig erscheinen konnte.“
Diese „Ich-Religiosität“ sei Jeanne dann aber auch zum Verhängnis geworden. Denn sie bedeutete für die Kirche einen Angriff auf deren religiöse Autorität und damit auf ihren Machtanspruch. Der Historiker schreibt, dass Jeannes Religiosität weit über das damals Übliche hinaus ging. „Kaum dass die Glocken erklangen, lief sie zur Kirche, beichtete und empfing die Heilige Kommunion, wann immer es möglich war. Vor allem hatte sie ein besonderes Verhältnis zur Person und zum Namen Jesu. Mit ‚Jhesu-Marie‘ ließ sie ihre Briefe überschreiben, auf ihre Fahne ließ sie den Namen Jesus sticken und auf dem Scheiterhaufen rief sie nach verlässlichen Zeugenberichten wiederholt ‚Jesus‘.“
Die Jungfrau sagte vier Dinge voraus, die dann tatsächlich so eintraten: Zuerst würden die Engländer geschlagen, die Belagerung von Orleans aufgehoben und die Stadt von jenen Engländern befreit; außerdem werde der König in Reims gesalbt werden; drittens werde Paris an den König zurückfallen und der seit Jahren gefangene Herzog von Orleans aus England zurückkehren. Der Chronist schreibt dazu: „Alle diese Dinge hat der Sprechende eintreffen sehen.“
Die Greta Thunberg von 1429?
Ob Jeanne nun von Gott gesandt war oder nicht, die Bevölkerung, die Soldaten und die Heerführer schöpften durch ihr Auftreten neuen Mut, und damit neue Kraft, die zu vielen Siegen über die Engländer führte. Irgendwann reichte die bloße Ankündigung von Jeannes Erscheinen bei den Feinden aus, dass sie sich auf der Stelle ergaben. Jeanne, die bei den Franzosen als Heilige verehrt wurde, war bei den Engländern und Burgundern als „Hexe“ gefürchtet.
Immer wieder wurden an Jeanne die Bitten um Heilung von Krankheiten getragen. Die wies sie mit dem Hinweis zurück, davon verstehe sie nichts. Als ein Graf sie einmal fragte, welcher der aktuellen drei Päpste denn nun der wahre Papst sei, zeigte ihre Antwort laut Krumeich, „dass sie auch auf der Höhe ihres Ruhms nicht in Hochmut verfiel“: „Sie ließ dem Grafen nüchtern ausrichten, dass sie für so weitgehende Fragen nicht zuständig sei.“ Immer wieder drängt sich bei der Lektüre der Vergleich zur Schwedin Greta Thunberg auf, die heutzutage ebenfalls große Hoffnungen bei Tausenden von Menschen weckt, die Welt in gewisser Weise zu retten. Und der Schwedin bleibt nur, diese vielleicht übertriebenen Erwartungen an sie zu dämpfen.
Bei allen Berichten über Jeannes Äußerungen und ihren Briefen wird klar: Jeanne selbst nahm ihren Glauben und ihren Auftrag von Gott sehr ernst. Sie wirkt wie jemand, der voller Liebe, aber vor allem voller Überzeugung geleitet wird, dass Gott persönlich sie leitet. Immer stellt sie Gott an erste Stelle und nicht sich selbst.
Der König wiederum, dessen Krönung und Salbung Jeanne angekündigt und schließlich mit herbeigeführt hatte, stand nach damaligem Verständnis für die Verteidigung des „heiligen katholischen Glaubens“ und der Kirche ein. Die Salbung mit Öl lehnte an die Salbung der Könige im Alten Testament und an David an. Sie verlieh dem König von Frankreich sogar offiziell die Fähigkeit, Kranke zu heilen. Jeanne sorgte also mit ihrem Kampf für diesen König für eine enorme Aufwertung dieser kirchlichen Weihe.
Dennoch war es den Klerikern irgendwann genug: Jeanne maß sich nicht nur an, Gottes Stimme zu hören (ohne die Kirche zu fragen) und machte sich des Hochmuts schuldig. Die Kirche sah in Jeanne eine Konkurrentin: „Die Kirche war darauf bedacht, die einzige theologisch legitimierte Vermittlerin zwischen Gott und dem Christenvolk zu sein und zu bleiben“, schreibt Krumeich. Mehrere Geistliche hätten sich im späteren „Verdammungsprozess“ darum bemüht, Jeanne dazu zu bewegen, sich doch dem Papst zu unterwerfen. „Denn darum ging es im Wesentlichen.“
Den Geistlichen ging es nicht um theologische Fragen, sondern um ihren Machtanspruch. Nicht nur der Vergleich zu den Schriftgelehrten und Pharisäern im Neuen Testament drängt sich auf, die Jesu Anspruch infrage stellten, direkt mit Gott in Verbindung zu stehen und nicht nur über den Schriften, sondern auch der Vergleich zu den Reformatoren. Ob nun bei Jan Hus, Martin Luther oder Jeanne d’Arc – für die Kirchenvertreter stand fest: Gott und die Kirche sind ein und dasselbe. Das habe man so auch Jeanne wissen lassen, schreibt Krumeich. Jeannes Erwiderung darauf war einem Chronisten zufolge, „dass sie sich allein Gott dem Herrn fügt, und wenn ihr die kämpfende Kirche das Gegenteil befehle, werde sie sich niemandem in der Welt beugen, außer unserem Herrn und Gott“. Krumeich kommentiert: „Diese unglaublich kämpferische und selbstbewusste Ich-Theologie ist einer der Hauptgründe für das Licht, in dem die Jungfrau auch heute noch, sogar bei ihren Kritikern, erstrahlt.“ Und er fügt hinzu: „Ob heute, 600 Jahre und einige Revolutionen und Emanzipationen später, solches Selbstbewusstsein für wie auch immer tolerante Vertreter der Kirche akzeptabel wäre?“
Gerade diese Parallelen in den Konflikten zwischen kirchlich Verordneter Frömmigkeit und persönlicher Glaubenserfahrung bei Jeanne d’Arc und anderen Frommen mit außergewöhnlichem Sendungsbewusstsein machen die Lektüre von „Jeanne d’Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige“ gerade für Christen interessant. Der Prozess vor den Klerikern entlarvt die Anmaßung der Kirchenvertreter, alleine über den Willen und die Absichten Gottes urteilen zu können, die bis zum Verbrennen eines Menschen auf dem Scheiterhaufen führten. Eines wirklichen Verbrechens hatte sich Jeanne nicht schuldig gemacht. Zudem fällt auf, dass die Kirchenvertreter stets hin- und hergerissen waren zwischen „Wundern“ hier und „Hexerei“ dort. Was was ist, konnten sie je nach eigenem Vor- oder Nachteil beurteilen. Andere Männer und Frauen, die Wunder vollbracht haben sollen, wurden von der Kirche heilig gesprochen. Jeanne d’Arc, die durch das Urteil der Katholischen Kirche am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen sterben musste, wurde von der Katholischen Kirche im Jahr 1920 heilig gesprochen.
Krumeich ist nach eigener Aussage bei der Geschichte um Johanna von Orleans fasziniert vom „Aufeinanderprallen zweier unversöhnlicher Kräfte“, die hier auf dramatische Weise zutage treten: „Auf der einen Seite das Inquisitionsgericht als Institution, ein bürokratisch ausgeformter theologischer Apparat, auf der anderen Seite eine helle und über die Jahrhunderte hinweg faszinierend frische und authentische junge Frau von unerschütterlichem individuellen Glauben, von großer gedanklicher und sprachlicher Kraft.“ Das habe Jeanne d’Arc „zu einer der großen Gestalten der Weltgeschichte“ werden lassen. Und diese Faszination springt auf den Leser des Buches über.
Gerd Krumeich: „Jeanne d’Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige“, Verlag C.H.Beck, 399 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-406-76542-1
Von: Jörn Schumacher