Die Spirale der Macht durchbrechen

Sie war eines der Opfer in einem der größten Skandale der amerikanischen Sportgeschichte. Rachael Denhollander verarbeitet in ihrem neuen Buch „Wie ich das Schweigen brach – Eine junge Frau kämpft für Gerechtigkeit“ ihren sexuellen Missbrauch durch den Arzt Larry Nassar. Sie trotzt aller Rückschläge möchte sich die Christin für einen offensiven Umgang mit dem Thema einsetzen. Eine Rezension von Johannes Blöcher-Weil
Von PRO
Rachael Denhollander bricht ihr Schweigen und klagt den renommierten Arzt Larry Nassar an

Rachael Denhollander wurde zur mutigen Stimme für viele Betroffene sexuellen Missbrauchs. Die amerikanische Christin hat die Vergehen des bekannten amerikanischen Arztes Larry Nassar, der auch Olympia-Athleten betreute, öffentlich gemacht. Die Geschichte dazu hat sie in dem Buch „Wie ich das Schweigen brach – Eine junge Frau kämpft für Gerechtigkeit“ niedergeschrieben, das jetzt bei SCM erschienen ist.

Auf fast 500 Seiten macht sie deutlich, wozu Menschen alles fähig sind. Sie beschreibt eine Kultur des Missbrauchs, die sexualisierte Gewalt gegen über 150 Mädchen und Frauen ermöglichte. Die Autorin selbst hat nicht nur als Turnerin sexuellen Missbrauch erlebt, sondern als kleines Mädchen auch im christlichen Kontext. Der Preis für Denhollander, den Arzt Larry Nassar anzuzeigen, ist hoch. Sie weiß nicht, wer den Erlebnissen eines damals unbekannten 16-jährigen Mädchens glauben würde. Doch Schweigen ist für sie keine Option, weil die Täter prinzipiell mit der Angst des Opfers spielen. Dem möchte sie einen Riegel vorschieben.

Die Scham, etwas falsch zu interpretieren

Das Streben nach Gerechtigkeit spielte schon in ihrem christlichen Elternhaus eine wichtige Rolle. Dort lernt sie früh, Verantwortung für Familie und Gesellschaft zu übernehmen. Der christliche Glaube wird zu einem wichtigen Anker. „Meine Eltern konnten Wahrheiten aus der Bibel in fast jede Situation einbringen.“ Dass sie selbst als Siebenjährige von einem Besucher ihrer Gemeinde missbraucht worden ist, begreift sie erst sehr viel später.

Das begeisterungsfähige Mädchen beginnt zu turnen. Ihre sportlichen Fähigkeiten sind zwar begrenzt, aber sie schätzt den Zusammenhalt der Mannschaft. Nach einer Verletzung wird sie von der medizinischen Koryphäe Larry Nassar behandelt. Zunächst fühlt sie sich in guten Händen. Ihr wird erst später klar, dass nicht alle seine Behandlungen, wie die vermeintliche Beckenbodentherapie, medizinische Zwecke haben. Zugleich sorgt sie sich davor, Dinge falsch zu interpretieren.

Denhollander beginnt während ihres Studiums selbst, Kinder zu trainieren. Sie merkt, wie enge Bindungen Trainer zu ihren Schützlingen aufbauen und wie schwierig es für Kinder wäre, Missstände zu benennen. Sie selbst trägt jahrelange Albträume mit sich herum und versucht in ihrem Turnverein Gehör zu finden. Dass Gott ihre Probleme im Blick hat, daran zweifelt sie.

Christliche Gemeinden sind keine sicheren Orte

Sie weiß, dass christliche Gemeinden nicht vor sexuellem Missbrauchs gefeit sind. Bei der Bewältigung ihrer Ängste und Zweifel hilft ihr Jacob, den sie kennenlernt und später heiratet. Mit ihm kann sie die Vorfälle aufarbeiten und sich den Folgen stellen. Auch in ihrer aktuellen Gemeinde wird sexuelle Gewalt zum Thema – und Denhollander legt den Finger in die Wunde. Die Recherchen des Journalisten Mark Alesia bringen schließlich Nassars Vergehen ans Licht.

16 Jahre nach ihrem eigenen Missbrauch hat Denhollander die Kraft, juristisch gegen Nassar vorzugehen. Ein juristisches Ringen, das auch alte Wunden aufreißt. Sie tritt als Hauptklägerin auf. Sie kämpft für sich und die übrigen Missbrauchsopfer, um die Taten Nassars zu stoppen. Es sei schlimm, wenn man als Missbrauchsopfer die Stimme und die Kontrolle über das eigene Leben verliere, schreibt sie.

Denhollander beschreibt – etwas zu ausgiebig – den juristischen Marathon von der Vorverhandlung bis zur Urteilsverkündung im Januar 2018. Sie nimmt den Leser mit in ihre Kämpfe gegen taktische und juristische Scharmützel der Gegenseite sowie deren Manipulationsversuche. Und sie erklärt, warum es ihr so schwerfiel, ihren Peiniger schon früher anzuzeigen. Für sie ist es der Horror, vor den Augen des Täters noch einmal alles zu durchleben. Dankbar ist sie für den Rückhalt ihrer Familie und in der Gemeinde.

Eigener Glaube als wertvolles Fundament

Am Ende der juristischen Auseinandersetzung steht eine erschöpfte Hauptprotagonistin. Getrieben von dem Willen, juristische Klarheit zu haben, dass Nassar lebenslänglich eingesperrt wird, weil er gegen medizinische Leitlinien verstoßen hat. Sie und 20 weitere Opfer sagen gegen den Arzt aus, darunter auch etliche Spitzenturnerinnen. Denhollander verdeutlicht, dass Nassar den Willen seiner Opfer unterschätzt hat.

Unumwunden gibt sie zu, welch verheerende Folgen der Missbrauch bei ihr hinterlassen hat: Albträume und Schwierigkeiten, körperliche Nähe zu Menschen zuzulassen. Dabei war ihr christlicher Glaube ein wichtiges Fundament, um Liebe und Vergebung neu für sich zu verstehen und zu lernen. Sie begreift es als Geschenk, „sicher bei Gott zu sein“. Nassar wird für unterschiedliche Vergehen zu 40 bis 175 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil sorgt dafür, dass er nie wieder Kinder wird behandeln dürfen.

Denhollander ist erleichtert, dass sie mit Hilfe vieler anderer die Taten Nassars stoppen konnte. Zugleich nutzt sie ihr Buch auch für den Appell, Täter nicht zu decken. Und auch nicht die Augen davor zu verschließen, dass dies in christlichen Gemeinden ein Thema sein kann. Denhollander hat in den Jahren nach dem Prozess Heilung erfahren und die möchte sie auch anderen ermöglichen.

Das Buch ist einerseits ein spannendes Dokument der Zeit- und Sportgeschichte, andererseits eine ehrliche und persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Autorin zeigt auf, dass es noch viel zu tun gibt: sowohl im christlichen als auch im nicht-christlichen Kontext. Denhollander tritt heute noch als Anwältin für Opfer sexueller Gewalt auf. Das Nachrichtenmagazin Time kürte sie zu einer der hundert einflussreichsten Personen und die Zeitschrift Glamour ernannte die 36-jährige vierfache Mutter zu einer der Frauen des Jahres.

Rachael Denhollander: „Wie ich das Schweigen brach – Eine junge Frau kämpft für Gerechtigkeit“, SCM Hänssler, 480 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 9783775160476

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