Seine Bestandsaufnahme zur Situation der Kirche fällt bescheiden aus. Der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer sieht sie in einer Krise. Diesen Status quo beschreibt der Gießener Wissenschaftler in seinem Buch „Der Niedergang der Kirche – eine Sternstunde?“. Er fordert, dass sich die Kirche vor allem an die Seite der Schwachen stellt.
Obwohl sich die Kirche im Niedergang befinde, suchten Menschen verzweifelt nach Trost, „weil sie Zuflucht, Wärme, Heimat, Gemeinschaft, Rettung ersehnen wie nie zuvor“. Gronemeyer wünscht sich deshalb eine „tröstende und mitweinende Kirche“. Bisher habe sie noch nicht begriffen, dass sie nicht so weitermachen könne wie bisher.
Der Soziologe sieht nicht nur die Bindungskraft, sondern auch den gesellschaftlichen Einfluss der Kirchen massiv schwinden. Die bisherige europäisch-christliche Kultur falle aus seiner Sicht einem Flächenbrand zum Opfer. Auch dürfe heute keiner mehr davon ausgehen, dass Menschen biblische Geschichten und ihre Inhalte kennen.
Die Sehnsüchte der Menschen hören
Inzwischen habe die Kirche für Gronemeyer oft die Färbung eines „nichtreligiösen Christseins“. Früher habe das Dogma gegolten, dass „außerhalb der Kirche kein Heil“ sei. Diese Aussage habe ihre Furcht verloren. Gronemeyer empfiehlt der Institution, lieber auf Einfluss und Macht zu verzichten, und stattdessen konsequent die Schwachen zu unterstützen. Die Botschaft der Kirche könne mit weniger Macht „klarer leuchten“.
Die Institution müsse die Sehnsüchte der Menschen erkennen. Vor allem in der Pandemie und der damit verbundenen Isolation flackerten diese auf. Das fordere die Kirche noch einmal neu heraus. Die Pandemie, in der die Kirche zu lange geschwiegen habe, lege die Verletzlichkeit der Welt offen. Gronemeyer befürchtet noch mehr Kirchenferne. Die Sehnsucht nach Gottesdiensten und der „Gemeinschaft der Heiligen“ sei schon zum Erliegen gekommen. Kaum einer störe sich, wenn Gottesdienste ausfallen, aber die Menschen bräuchten trotzdem Orte, wo sie und ihre Anliegen gehört werden.
Die Kirchen seien kaum imstande, sich gegen das Absterben einer Innerlichkeit zu wehren, die man einmal „Glauben“ genannt habe. Wenn eine kirchliche Hochzeit immer mehr zum Event mit Kitschanteilen werde, verkomme der Pfarrer zum Entertainer. Die Volkskirche befinde sich dann auf dem Weg zur RTL-Nachmittagsshow, spitzt Gronemeyer zu. An der Botschaft der Bibel vom ewigen Leben arbeite die Gesellschaft schon lange. Kaum ein anderer Ort verkörpere diesen Wunsch so stark wie das amerikanische Silicon Valley. Die Pläne von Google und Co. zerstörten den „Zusammenhalt der Menschen untereinander, aber auch ihren Körper und ihren Geist“. Diese Menschen suchten ihr Heil im technischen Fortschritt. Die Hoffnung der Auferstehung von den Toten oder die Menschwerdung Gottes spielten für sie keine Rolle, weil sie eine vermeintliche Alternative gefunden haben.
Herz der Kirche schlägt an den Rändern der Gesellschaft
Gronemeyer wünscht sich Christen, die sich wieder auf die radikale Botschaft der Nächstenliebe besinnen. In Europa sei die Fallhöhe für Christen gering, in 144 anderen Ländern der Welt würden Christen für ihren Glauben verfolgt, vertrieben und ermordet. Kirche müsse begreifen, dass ihr Herz an den Rändern der Gesellschaft schlägt. Die Menschen seien aber damit beschäftigt, sich selbst zu optimieren: „Die Reichen und Starken sorgen für sich. Die Armen und Schwachen müssen sehen, wo sie bleiben.“
2060 werde die Kirche in Deutschland nicht mehr so sein, wie ein Großteil der Menschen sie heute kenne. Während sie in Europa ihre eigenen Ziele aufs Spiel setze, sei in Afrika von einer Krise der Kirche keine Rede. Für Gronemeyer sind die Kirchen dort ein Vorbild lebendigen Glaubens und Christseins. Aus deren Gemeinden ströme eine unerwartete Kraft. Gronemeyer wünscht sich Kirche als solidarischen und spirituellen Ort.
Kirche werde künftig mit weniger Geld und Macht auskommen müssen. Das könnte zu einem heilsamen Schrumpfen führen. Um einen Aufbruch zu erreichen, könne Kirche keine „Plastiksprache, emotionale Kälte und betriebswirtschaftliches Kalkül“ gebrauchen. Der Autor hofft, dass eine Zeit christlicher Frömmigkeit anbricht, „die die mumifizierte Kirche zu neuem Leben erweckt“. Ihre Botschaft könne aber nur dann aufblühen und Gehör finden, „wenn die Christen bereit sind, den Ernst der Lage zu begreifen und sich auf ihre ureigene Liebes-Botschaft zu besinnen“.
Auf diesem Weg spielen für Gronemeyer Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger eine wichtigere Rolle als die Eliten. Wenn Kirche diese Klientel nicht zu ihrem Kerngeschäft mache, werde sie bedeutungslos. Als Leser und Mitglied der Landeskirche muss man schwer schlucken, wie ernüchternd der Autor auf die Kirche blickt. Aber Gronemeyer schreibt das nicht destruktiv, sondern, weil ihm „seine“ Kirche am Herzen liegt – und er sich eine Zukunft für sie wünscht. Er hält den Kirchenoberen, aber auch den Menschen an der Basis den Spiegel vor. Nach 176 Seiten, auf denen Gronemeyer viele Ansatzpunkte thematisiert, ist klar, dass die Kirche der Zukunft eine andere ist, als die gegenwärtige. Die Lektüre lohnt sich.
Von: Johannes Blöcher-Weil