Das Buch „Freikirche mit Mission“, das in der Evangelische Verlagsanstalt Leipzig erschienen ist, stellt die leicht überarbeitete Fassung der „Postdoctoral Thesis“ von Philipp Bartholomä dar, die 2018 von der Fakultät für Theologie an der Vrijen Universiteit Amsterdam angenommen wurde. Bartholomä ist selbst freikirchlicher Pastor und untersuchte hier die gegenwärtigen missionarischen Herausforderungen von Freikirchen. Die Studie wolle bewusst die Brücke von der akademischen Reflexion hinein in die missionarische Praxis von Freikirchen schlagen, schreibt der Autor. Daher richte sich sein Buch auch nicht nur an Fachpublikum, sondern auch an (frei-)kirchliche Verantwortungsträger. Seit April 2019 ist Bartholomä Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Gemeindeaufbau an der Freien Theologischen Hochschule (FTH) Gießen.
Zunächst wartet das Buch mit vielen Zahlen und Statistiken auf, um das Problem zu konkretisieren. So hätten etwa die beiden Großkirchen in den Jahren seit 1970 insgesamt etwa zehn Millionen Mitglieder verloren – bei einer gleichzeitigen Zunahme der Gesamtbevölkerung um rund 20 Millionen. Heute gehörten in Deutschland noch etwa 24 Millionen Menschen der Römisch-Katholischen Kirche an, und etwa 23 Millionen der Evangelischen Kirche, was insgesamt etwa 57 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmache. Darüber hinaus listet der Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst REMID 76 Freikirchen oder Sondergemeinschaften mit derzeit rund 1,8 Millionen Mitgliedern. „Während die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in den vergangenen zehn Jahren über ein Zehntel ihrer Mitglieder verlor, können die sechs größten klassischen Freikirchen insgesamt einen Zuwachs von 1,1 Prozent verzeichnen.“
Die Ausgangsthese der Studie lautet indes, dass sich die klassischen Freikirchen in einer „Krise der Mission“ befinden. Die Freien evangelischen Gemeinden (FeG) hätten zwar in den letzten 50 Jahren ihren Mitgliederbestand quasi verdoppelt, das Wachstum habe sich aber im letzten Jahrzehnt nach einem stärkeren Anstieg in den 1980er und 90er Jahren merklich verlangsamt. Pfingstgemeinden hingegen seien im Wachstum begriffen: Zwischen 2009 und 2015 hat etwa der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) insgesamt 7.700 neue Mitglieder hinzugewonnen, was einem jährlichen Durchschnittswachstum von ca. 2,5 Prozent entspricht. Laut Statistik haben sich in den Jahren 2012 bis 2015 in den FeG 3.608 Menschen bekehrt. Dagegen haben die (heute 20) Landeskirchen allein zwischen 2002 und 2012 fast drei Millionen Mitglieder verloren.
Wahrheitsanspruch in einer relativistischen postmodernen Gesellschaft
Der kanadische Philosoph Charles Taylor habe festgestellt, dass in unserer westlichen Kultur nicht selten das allgemeine Gefühl verbreitet sei, mit dem Verlust der Transzendenz sei etwas Wesentliches verloren gegangen. Der Philosoph Luc Ferry habe bereits früher bemerkt, dass man im Westen, ohne stark vom Religiösen angezogen zu sein, „dennoch eine Unzufriedenheit verspüre“. Für bedeutende Teile der deutschen Bevölkerung könne man von einer „Spiritualität der Suche“ sprechen. Bartholomä ergänzt: „Wenn all das stimmt, sind (nicht nur) freikirchliche Glaubensgemeinschaften in Zukunft umso mehr aufgefordert, genau diese Fragen mit Nachdruck ins Bewusstsein zu rufen bzw. an sie anzuknüpfen und dabei die christliche Daseinsdeutung apologetisch weise als sinnvolle und intellektuell belastbare Alternative angesichts der von der Immanenz hervorgerufenen Leere und Unzufriedenheit zu präsentieren.“
Daher laute die Kernfrage: „Wie könnte eine freikirchliche Gemeindegestaltung aussehen, die einerseits das christliche Evangelium in seinem Wahrheitsanspruch nicht verleugnet und dennoch andererseits so präsentiert, dass es von einem wahrheitsrelativistisch geprägten, postmodernen Zeitgenossen nicht von vorneherein als anmaßend abgelehnt werden muss, sondern gehört werden kann?“ Bartholomäs Rat lautet: Freikirchen müssen in einer neuen Zeit in ganz grundsätzlicher Weise lernen, in ihrem missionarischen Bemühen zunächst einmal Milieugrenzen zu überwinden, um dann langfristig eine sich „manifestierende Buntheit verschiedenster Lebensentwürfe [kirchlich] zu integrieren, als Einheit zu begreifen und darum in sich – soweit verantwortbar – Raum zu geben“.
Mehrheit hatte zuvor Kontakt zu Freikirchen
Für seine eigene empirische Studie hat Bartholomä Verantwortliche aus 51 freikirchlichen Gemeinden mit Hilfe eines Online-Fragebogens befragt, aus BEFG, BFeG und BFP. Insgesamt wertete er die Antworten von 1.815 Personen aus. So sollten die Befragten etwa angeben, wie sehr sie der Aussage „In unserer Gemeinde kommen regelmäßig Menschen zum Glauben, die bisher wenig oder gar keine Berührungspunkte mit Kirche und christlichem Glauben gehabt haben“ zustimmen. In jungen (34,5 Prozent) und mittelalten Gemeinden (40,2 Prozent) antworten deutlich mehr Befragte mit „trifft eher zu“ oder „trifft voll und ganz zu“ als in alten Gemeinden (25,4 Prozent).
Von den Befragten hatten 36,4 Prozent in den letzten 12 Monaten keine einzige Person neu mit der Gemeinde verknüpft. Mehr als die Hälfte (57,2 Prozent) gibt an, im Laufe des Jahres zwischen 1 und 5 Freunde und Bekannte zu Veranstaltungen der Gemeinde mitgebracht zu haben, nur bei 6,4 Prozent waren es mehr als 5 Personen. Die überwältigende Mehrheit der Mitglieder deutscher Freikirchen hat innerhalb ihres Lebenslaufs eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Kirchenbindung vorzuweisen. Lediglich 15,8 Prozent derer, die heute zu einer Freikirche gehören, geben an, vorher mindestens 5 Jahre keinerlei Verbindung zu einer Kirche gehabt zu haben. Höchstens 151 der befragten Mitglieder von Freikirchen (das entspricht 8,3 Prozent des Gesamtsamples) sind ohne wesentlichen Kontakt zu einer Kirche aufgewachsen.
„Evangelistisch begabte Schlüsselpersonen“
In einer weiteren Studie untersuchte Bartholomä zwei freikirchliche Gemeinden: Einerseits eine bereits sehr alte, überdurchschnittlich große Gemeinde in Westdeutschland, die zweite war eine junge, dynamische, in den ersten Jahren ihres Bestehens stark wachsende Gemeindegründung im Osten Deutschlands. Bartholomä führte Interviews und besuchte jeweils zwei Gottesdienste. Außerdem führte er einen Online-Befragung durch und untersuchte den Internetauftritt der jeweiligen Gemeinden. Bei dieser Kirche stellt er fest: „Ohne persönliche Beziehungen gelingt es kaum, bei Außenstehenden Interesse am Glauben zu wecken. Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wesentlicher, dass die ‚Freikirche für andere’ ihre Mitglieder konsequent zu einem bewusst evangelistischen Lebensstil und zur Pflege von Beziehungen mit Nichtchristen ermutigt.“ Die im Kontext dieser Kirche zum Glauben Gekommenen betonten allesamt, wie wichtig nach ihrem ersten Kontakt mit der Gemeinde weitere Personen waren, die ihnen zugehört und Fragen beantwortet, die mit ihnen gebetet und sie als liebevolle Gegenüber begleitet haben.
„Das Vorhandensein eines gemeindeprägenden Klimas der Gastfreundschaft ist ein weiterer Schlüsselfaktor für die missionarische Wirksamkeit der ‚Freikirche für andere’“, schreibt Bartholomä. „Man kann als Gemeinde darauf achten, dass etwa in Gottesdiensten, wo explizit Nichtchristen angesprochen werden sollen, nur solche Elemente vorkommen, die Nichtchristen nicht allzu sehr verstören. Etwa der Aufruf, mit seinem Sitznachbarn zu beten.“ Ebenfalls sinnvoll sei es, im Informationsteil von einer Vielzahl von Gemeindeinterna abzusehen. Die interviewten Neubekehrten stellten zudem allesamt die Relevanz, Alltagstauglichkeit und grundsätzliche Qualität der Predigten heraus.
In die zweite Gemeinde kamen bereits nach knapp zwei Jahren 60 bis 70 Besucher, zur Kerngruppe zählen rund 25 Personen. Obwohl auch diese noch junge Gemeinde bisher keine überragend große Zahl an Bekehrungen aus säkular-unkirchlichem Background erlebt habe, kämen doch sehr regelmäßig Menschen mit einem sehr geringen Maß an christlicher Sozialisation zum Glauben.
Bartholomäs Fazit lautet: Bei beiden Fallgemeinden korreliere das überdurchschnittliche Bekehrungswachstum mit einer besonderen Betonung des missionarischen Anliegens. Bekleideten besonders evangelistisch begabte und missionarisch leidenschaftliche Personen entsprechende Schlüsselpositionen, stärkten sie durch ihr Vorbild und ihre strategischen Entscheidungen nachhaltig die missionarische Strahlkraft der Gemeinde. „Für ihre missionarische Praxis nehmen beide Fallgemeinden (bewusst oder unbewusst) auf eklektische Weise Impulse aus verschiedenen missionarischen Gemeindeaufbaukonzepten auf.“
Bartholomä: „Unsere Fallstudien zeigen beispielhaft, dass missionarisches Wachstum durch theologisch konservative (und damit vermeintlich heute unverständliche und unvermittelbare) Inhalte nicht zwangsläufig gehindert wird.“ Dabei zeichne sich der Mangel an intensiven persönlichen Kontakten zu Nichtchristen als eines der wesentlichsten Hindernisse für den missionarischen Gemeindeaufbau ab. „Es kann in Gemeinden generell nicht nachdrücklich genug dazu motiviert werden, Zeit und Kraft in persönliche Beziehungen zu Nichtchristen zu investieren.“
Um den Gottesdienst evangelistisch wirksamer zu machen, empfiehlt Bartholomä zudem eine Reihe von Punkten: Der Einsatz eines Gottesdienstprogrammhefts könne Vertrauen schaffen und gerade uneingeweihten Gästen die Sicherheit geben, jederzeit zu wissen, was als Nächstes passiert – Gäste sollten ausdrücklich begrüßt werden; die Qualität der Musik sei nicht unwichtig, außerdem sollte die Predigt zwar eine Bindung an die Bibel haben, aber auch einen starken Alltagsbezug herstellen; auch regelmäßig angebotene Entdecker- und Glaubensgrundkurse seien zu empfehlen.
Das Buch „Freikirche mit Mission“ erhebt zwar den Anspruch, konkrete Hilfe für Gemeinden im missionarischen Aufbau zu bieten, stellt aber insgesamt eine umfangreiche Studie dar, die vor allem für Fachpublikum interessant sein dürfte. Praktische Tipps für den Alltag von Gemeindeleitern kommen etwas zu kurz.
Philipp Bartholomä: „Freikirche mit Mission“, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 700 Seiten, 44 Euro, ISBN 9783374061617