Vier Jahre lang hat der Journalist Frédéric Martel für sein Buch „In the Closet of the Vatican. Power, Homosexuality, Hypocrisy“ im Vatikan recherchiert. Er behauptet, dass der Kirchenstaat bewusst geheim halte, dass „die große Mehrheit von Kardinälen, Bischöfen und Priestern homosexuell ist“. Nach außen werde dies verheimlicht, „aber innen wissen die Leute genau, was passiert“, sagte er der Zeit-Beilage Christ und Welt.
Sein Buch erscheint an dem Tag, an dem der Missbrauchsgipfel in Rom beginnt. Der Katholischen Kirche wirft er vor, dass ihre Repräsentanten „pausenlos lügen“. Der Autor findet es verheerend, dass das gesamte Konstrukt dort Missbrauchstäter schütze. Mit seinem Buch wolle er niemanden outen, sondern lediglich Fakten präsentieren.
Nicht alle Homosexuellen praktizieren es öffentlich
Schon zu Zeiten von Johannes Paul II. seien hochrangige Würdenträger homosexuell gewesen. Sie hätten nicht alle ihre Homosexualität praktiziert: „Auch wenn es mehr tun, als wir glauben“, sagt Martel. Seinen Recherchen zufolge seien auch einige der vergangenen Päpste homosexuell gewesen. Papst Benedikt habe gesagt, dass er dieses „Netzwerk“ zerschlagen habe, aber dies sei „naiv“. Martel vermutet, dass Homosexuelle zu Benedikts eigenem Netzwerk gehörten und er deshalb 2013 zurücktrat.
Homosexuelle, die in den Vatikan kämen, müssten „nach außen gegen Homosexualität wettern. Nach innen wird sie toleriert. In diesem System haben sich die Leute eingerichtet“. Mit seinem Buch wolle er offenlegen, „wie das System von Druck, Lüge, Doppelmoral, Heuchelei und Schizophrenie funktioniert, das Papst Franziskus inzwischen bekämpft“. Viele Kleriker hätten sich „in ihr eigenes anachronistisches Problem verstrickt“. Seit 50 Jahren sei das Verhältnis zur Homosexualität die Lebenslüge des Vatikans, aus dem der Staat nicht herauskomme, sagte Martel im Interview.
„Je homophober, desto homosexueller“
Die Kirche sei in der Moral der Fünfzigerjahre steckengeblieben, als Homosexualität geächtet wurde. Der Priesterberuf sei immer ein Ausweg für heranwachsende Männer gewesen, „die mit ihrer Sexualität nicht klarkamen“. In seinem Buch hat er die Beobachtung festgehalten: „Je homophober jemand auftritt, umso klarer homosexuell ist er in Wirklichkeit.“
Für junge Menschen sei Homosexualität einer der letzten Gründe, Priester zu werden. „Wenn man das stoppt und dazu alle Schwulen aus dem Vatikan entlassen würde, wäre der Vatikan fast leer.“ Wenn die Kirche die Priester aus den Seminaren entlasse, könnten diese die Kirche verklagen. „Denn die Gesetze machen die Staaten, nicht die Kirche – und da ist Homosexualität keine Straftat mehr. Aber die Kirche hat den Wandel nicht verstanden.“
In Bezug auf den Missbrauch erhofft sich Martel in nächster Zeit eine Reaktion in der Katholischen Kirche: „Für mich ist das wie eine Reaktion des Körpers, wenn die Lügen plötzlich nicht länger zu ertragen sind. Wir erleben das Ende eines Systems.“ Er habe sich gewundert, warum die Kirche beim Verdacht von Missbrauchsfällen die Polizei nicht informiert. Für viele Würdenträger sei es schlimmer, wenn ihre eigene Homosexualität bekannt werde, als wenn ein Kind missbraucht werde.
Der Vatikan würde explodieren
Martel glaubt, dass die Realität noch schlimmer ist, als er sie in seinem Buch schildert. Er war für seine Recherchen jeden Monat eine Woche im Vatikan. Wenn das Buch veröffentlicht ist, rechnet er fast selbstverständlich mit Angriffen gegen sich. Seine wichtigsten Quellen im Vatikan wollten, dass er all diese Dinge veröffentliche. Den Großteil der Gespräche habe er mit dem Einverständnis der Gesprächspartner aufgezeichnet. Bei einer Veröffentlichung alles Materials würde „der Vatikan explodieren“. 2015 hatte der polnische Kurienkaplan Krzysztof Charamsa sich zu seiner Homosexualität bekannt. Weil seine Sühne ausblieb, wurde er suspendiert.
Von: Johannes Blöcher-Weil