Dieses Buch atmet eine entfesselte Freiheit des Denkens. Frei nach dem Motto: „Man kann die Erkenntnisse der Bibelwissenschaft ignorieren oder sogar davor warnen, man könnte aber auch etwas von ihr lernen.“ Ein Buch, das die pauschale Kritik an der modernen Bibelwissenschaft in ihre Einzelteile zerlegt und sorgfältig darauf eingeht.
Thorsten Dietz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor und Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg, Lutherpreisträger und gefragter WORTHAUS-Referent, schreibt mit einer erfrischenden Leichtigkeit über ein schwerwiegendes Thema, das geradezu schwermütig vor sich hin kränkelt: evangelikales Bibelverständnis.
Ein riskant vermintes Gelände. Wer es betritt, muss mit Detonationen rechnen, mit Querschlägen, Volltreffern, Rohrkrepierern und jeder Menge Staub. Dies freilich in völlig friedlicher Absicht, aber der geistige Kampf um das „rechte“ Schriftverständnis hat die evangelikale Szene in eine kraftraubende Lagerbildung geführt. Dietz geht geradezu leichtfüßig und unbekümmert auf die Kontrahenten der reinen Lehre zu, entwaffnet sie mit seiner theologischen Kompetenz, indem er den verkanteten Widerspruch zwischen intellektueller Redlichkeit und schlichter Herzensfrömmigkeit auflöst. Dietz ist mit beiden Lagern vertraut, das macht das Buch so überzeugend.
Das „weiter“ im Titel versteht sich räumlich und zeitlich. Der Autor wirbt für einen Glauben, der nicht in ängstliche Enge, sondern barmherzige Weite führt.
Rigorose Frömmigkeit ohne Raum für Zweifel
Die eingangs beklagte Polarisierung in der Schriftfrage entfaltet Dietz am Beispiel des literarischen Aufregers „Freischwimmer“ von Torsten Hebel (SCM) und unterstützt Jürgen Schuster, Professor für interkulturelle Theologie der IH Liebenzell, der das Hebel-Phänomen theologisch aufgearbeitet und gegen manch harsche Kritik verteidigt hat. Das Hebel-Phänomen: Seit einiger Zeit bekennen sich öfters gläubige Christen zu ihren Zweifeln und machen dies öffentlich.
Dietz fragt sich, warum so viele Menschen den intensiven Glauben ihrer Jugend irgendwann als Verirrung hinter sich lassen und konstatiert, dass im evangelikalen Milieu zu wenig Raum für Zweifel und Neuorientierungen gewährt wird. Und genau dieses Milieu scheint die Zielgruppe des Buches zu sein: die Täter und Opfer einer rigorosen Frömmigkeit, die auf die „Schrift“ bestehen, diese aber nach einer selbstgestrickten Hermeneutik auslegen, sodass das eigene, für „biblisch“ gehaltene Weltbild bestätigt wird.
Dietz sucht Zugänge zur geschlossenen Gesellschaft der „Fundamentalisten“. Und das versucht er im „Schatten“ von Friedrich Nietzsches „Zarathrusta“, in dem sich jede Art von Fundamentalismus als Erfahrung totaler Verunsicherung beschreiben lässt. Der Fundamentalist ist radikal auf das fixiert, was er radikal ablehnt.
Unter der Frage, was Theologie zur Überwindung fundamentalistischer Blockaden leisten kann, stellt der Autor fest, dass es keinen Weg am fairen Disput vorbei gibt, nämlich die Freiheit zu „dritten Wegen“. Dietz sieht zwischen radikaler Totalkritik der jeweils anderen und großer Gleichgültigkeit beziehungsweise Kontaktvermeidung einen weiten Raum, in dem Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen Fragen stellen und diskutieren können.
Unter der Überschrift „Gott gehört uns nicht“ nimmt der Autor seine bis dahin an Bord gebliebenen Leser mit in die spannende Lektüre des Exodus des Gottesvolkes. Gott ist der verborgene und gleichzeitig der offenbare Gott. Eine aufschlussreiche und spannende Studie über das „Geheimnis des Glaubens“, auch als Exkurs für eine Bibelstundenreihe geeignet.
Dietz gibt Johannes Hartl Recht
Dietz geht auf den katholischen Theologen Johannes Hartl ein, der in seiner Dissertation zu der Einsicht gekommen ist, dass von Gott reden immer metaphorisch zu reden bedeutet, also zeichenhaft, symbolisch, vermittelt über Bilder und Geschichten. Hartl und Dietz sind sich darin einig, dass „reden über religiöses Reden bis zur religiösen Sprachunfähigkeit führen kann“. Ja, theologische Impulse könnten desillusionierend, verunsichernd wirken, letztlich aber auch befreiend.
Im dritten Hauptteil geht es um die Frage nach der Wahrheit. In der Post- und Spätmoderne werde nicht mehr nach der absoluten Wahrheit gefragt, sondern wie wir mit der Wahrheitsvielfalt umgehen. Wieviel Pluralität kann jeder einzelne ausleben, das bezeichnet Dietz als das „postmoderne“ Dilemma. Er lässt auch nicht die Meinung durchgehen, die Bibel habe einen anderen Wahrheitsbegriff als die Philosophie. Der Wahrheit des christlichen Glaubens werde man weder durch das Ideal der absoluten Objektivität noch durch die Verabsolutierung der Subjektivität („für mich fühlt es sich aber gut an“) gerecht.
Der Autor macht keine Verbeugungen gegenüber denen, die in einer Sammelklage den Einfluss der Bibelwissenschaften beanstanden, aber er behält sie stets im Auge und wirbt um Vertrauen. Denn davon ist er fest überzeugt: Die Schnittmenge in Christus ist größer und wichtiger als die Differenzen.
Bibel ist Gottes Wort IM Menschenwort
Im vierten Kapitel wird es sehr konkret. Wie verstehen wir die Bibel? Sie ist laut Dietz nicht einfach „das“ Wort Gottes. Die Unterscheidung zwischen Jesus Christus selbst beziehungsweise dem Evangelium von Jesus Christus und der Bibel hält er für „schlechthin entscheidend“. Und er konstatiert, dass Christen nicht an die Bibel glauben, sondern an Jesus Christus. Gut reformatorisch bedeutet das: das Gesetz und die Propheten ohne das Evangelium können in die Verzweiflung treiben. Darum: Gottes Wort im Menschenwort.
Von dieser These ausgehend führt Dietz die Leser von der Antike durch die Orthodoxie bis zur Neuzeit. Er erklärt in einem geradezu entwaffnenden Ton die Fehlentwicklungen der Schriftauslegung im Entweder-oder-Schema und beschreibt einen „dritten Weg“ am Beispiel des frühen Pietismus.
Im fünften Teil des Buches wird der Autor noch expliziter. Anhand der Sintfluterzählung zeigt er, dass die wissenschaftliche Gegenprobe nicht gegen die Bibel spricht, sondern gegen ein bestimmtes Bibelverständnis. Wer die Bibel historisch unterscheidend lesen würde, käme gar nicht auf die Idee, in diesen Angaben „Fehler“ zu suchen und auf die Irrtumslosigkeit der Texte zu pochen.
Im sechsten Kapitel läuft Dietz unter dem Thema „Autorität der Bibel in ethischen Fragen“ zur Hochform auf. Da ist der systematische Theologe zuhause, denn er buchstabiert das Thema an Luthers Eheethik und weist nach, dass damals schon neutestamentliche Anweisungen nur verstanden werden konnten, wenn man diese in den zeitgeschichtlichen Kontext stellt.
Im siebten Kapitel widmet sich Dietz der Gemeindefrage und analysiert die Lage evangelikaler Gemeinden nüchtern und treffsicher. Seine Einsichten brechen den Stolz der Gemeindewachstumsmacher.
Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann
Am Ende spekuliert Thorsten Dietz – im Windschatten des bedeutenden katholischen Theologen Karl Rahner –, dass der Fromme ein Mystiker sein wird, weil man in der Spätmoderne nur noch aus religiösen Gründen zu einer Religion gehören würde. Wer Dietz bisher gefolgt ist, hat einen beachtlichen Erkenntnisgewinn erlebt, selbst wenn er dem Autor in die Gedankenwelt Karl Rahners nicht folgen kann.
Liest man die letzten beiden Kapitel als fakultativen Bonus, dann hat sich die Lektüre allemal gelohnt. Das Buch schließt mit einer hoffnungsgeladenen Reich-Gottes-Perspektive, die noch einmal die Unterzeile des Buchtitels verdeutlicht: Warum man einen großen Gott nicht klein denken kann!
Und noch eins muss man wissen, Thorsten Dietz ist Star-Wars-Fan. Ich nicht. Darum überblättere ich gern seine Analogien aus der Welt des Science-Fiction. Mir würde ohne diese Ausflüge in die virtuelle Welt Avartars nichts fehlen. Aber es soll ja Menschen geben, die in diesem Genre literarisch baden.
Eine insgesamt kluge und weise Schreibarbeit eines bescheidenen Gelehrten, der seine Leser aus der Welt der Denkverbote in die Weite eines angstfreien Glaubens führt. Eine respektlose Absage an alles kleine Denken von Gott.
Ein starkes Buch zum Weiterglauben, räumlich und zeitlich.
Von: Jürgen Mette