Bewegungen brauchen Ikonen. Ohne Repräsentationsfigur, ohne die Möglichkeit, einen Gedankenstrudel in einem Gesicht wiederzuerkennen, ist es schwer, eine dynamische Bewegung aufzubauen. Der Marxismus ist dabei keine Ausnahme. Man kann vielleicht sagen, dass kein Denker über die ganze Breite des 20. Jahrhunderts so einflussreich war, wie der Mann aus dem Rheinland. Marxismus-Leninismus war für einen wichtigen Teil der Weltbevölkerung über viele Jahrzehnte lang so ein Pflichtfach wie Mathematik. Sein Name veredelte Städte, seine Büste war säulenheilig.
Der britische Historiker und Marxismusforscher Gareth Stedman Jones, Professor an der University of London und Fellow der Royal Historic Society, hat sich in den letzten Jahrzehnten einen Namen darin gemacht, die Geschichte der kommunistischen, sozialistischen und marxistischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts herauszuarbeiten. Ende September ist seine monumentale Biographie zur Ikone dieses Staatssystems – Karl Marx selbst – als Übersetzung herausgekommen und präsentiert sich als streitbares, schwerfälliges, kritisches, aber ebenso wichtiges Werk.
Einführung in Denken, und ein bisschen Leben
Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 im Rheinland geboren; da war die Schlacht von Waterloo schon drei Jahre her und die napoleonischen Kriege hatten ihre Marke auf dem europäischen Kontinent hinterlassen. Er wurde in eine jüdische Familie hineingeboren – sogar eine sehr religiöse, bedenkt man, dass sein Großvater Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Saarlouis war. Aber sein Vater, Heinrich, ließ sich etwa zur Zeit von Karls Geburt taufen und erzog ihn stärker im Geiste der Aufklärung:
„Karls Schwager Edgar […] bezeichnete Heinrich als Protestanten in der Manier Lessings oder nach Kants Modell, wonach sich Glauben und Vernunft zu einer höheren Moral vereinigten.“ (S. 37)
Wichtiger noch als die Aufklärer aber wurde für Marx der Berliner Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der mit seinen Schriften zu Beginn des 19. Jahrhunderts den deutschen Idealismus auf die Gleise setzte. Unter dem Einfluss radikaler Religions- und Staatskritiker wie Bruno Bauer oder Ludwig Feuerbach schloss sich Karl Marx den Junghegelianern an: jener Gruppe unter den Schülern Hegels, die ihren Lehrmeister in Sachen Religionskritik und auch Radikalität zu übertrumpfen gedachten.
Zur Lektüre von Marx‘ Biographie braucht man keine Grundausbildung in Philosophiegeschichte! Jones gelingt es erstaunlich kurzweilig, in die philosophischen Konstruktionen vieler verschiedener Impulsgeber Marx‘ einzuführen, ohne dass die Biographie zu einer exkurs-lastigen Philosophievorlesung verkommt. Denn gerade darin liegt die Besonderheit von Jones‘ Werk begraben: Sie versucht, Marx konsequent aus der Geschichte heraus zu verstehen, in die hinein er geboren wurde, und aus der heraus er sich entwickelt hat.
Am wichtigsten ist dabei wohl die Unterscheidung, die Jones zwischen dem Marx im historischen Kontext und dem Marx in der Interpretation der späteren Marxisten macht. Ersteren nennt er deswegen konsequent „Karl“ in seiner Biographie. Zum Schluss seines Werkes bekräftigt Jones noch einmal explizit seinen
„Eindruck, dass den Marx, wie ihn das 20. Jahrhundert schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, nur eine zufällige Ähnlichkeit verbindet.“ (S. 719)
Die Schwierigkeit einer guten Biographie
Wie schwierig es sein kann, einen Mann wie Marx in seinem eigenen historischen Kontext zu verstehen, macht schon die kurze Geschichte der Marx-Gesamtausgaben deutlich, die Jones seiner Bibliographie am Ende des Werkes vorangestellt hat. Gerade auf Grund der Bedeutung von Marx für die späteren Ideologen des Marxismus, wurden seine Schriften oft tendenziös herausgegeben; eine wissenschaftlich verlässliche Gesamtauflage ist bis heute nicht vollständig erschienen.
Diese Tendenz zeigte sich schon in den letzten Jahren des Philosophen, in denen er finanziell vollkommen abhängig von seinem Freund Friedrich Engels war. Jones schreibt:
„Karl sprach nicht mehr groß über seine Arbeit, doch war es in diesen Jahren auch immer schwieriger geworden, Meinungsverschiedenheiten zu artikulieren. Denn weil Karl nicht mehr in der Lage war, journalistisch zu arbeiten […] und weitere Erbteile nicht zu erwarten waren, war die Familie Marx‘ stärker denn je auf die Großzügigkeit Engels angewiesen.“ (S. 682)
Und wo sich der Denker selbst zensiert hat, um seinen Geldhahn nicht zuzudrehen, da wurde auch in späteren Jahren gerne herumgeschnippelt, um aus einem Romantiker einen Dogmatiker zu machen. Jones gelangt damit an die Grenzen, die jeder Historiker beim Verfassen einer Biographie erlebt: In der Geschichtswissenschaft werden nur Wahrscheinlichkeitsurteile gefällt. Jones hält es für wahrscheinlich, dass die späteren Marxisten den Karl der Geschichte bewusst oder unbewusst falsch verstanden haben. Das ist erfrischend, aber auch streitbar und bleibt nicht ohne Kritiker.
Was dem Buch zugutekommt, ist die detaillierte Argumentation des Autors. Das ist gleichzeitig Stärke und Schwäche des Buches. Es macht die Thesen des Autors zwar vertrauenswürdig, gleichzeitig wird die Lektüre dadurch aber auch streckenweise langatmig. So fällt Jones leider in die gleiche Falle wie viele Biographen. Im Dschungel der detaillierten Analyse ist es dem interessierten Leser nur noch schwerlich möglich, den Überblick zu behalten. Davon zeugen 723 Seiten Fließtext mit weiteren knapp 170 Seiten Anmerkungen.
Falsche Schadenfreude über die Dekonstruktion einer Ikone
Es wäre nun einfach, sich über diese Entmythologisierung von Marx zu freuen. Dafür hat sich das brutale Schicksal, das christliche Kirchen in den späteren marxistischen und kommunistischen Diktaturen ereilt hat, zu tief in das gemeinsame kollektive Gedächtnis der Christenheit eingegraben. Spott über diese Ironie, dass die Ikone einer Bewegung mit ihr nur eine sehr vage Äußerlichkeit verbindet, würde mitunter genau den Nerv der Zeit treffen.
Doch Christen sollten bei allem Interesse an historischen Umständen nicht vergessen, dass diese Trennung schon seit vielen Jahrzehnten im der christlichen Theologie diskutiert wird – und zwar bei Jesus selbst. Es ist noch nicht allzu lang her, dass ein US-amerikanischer Forscher versucht hat, Jesus ganz als sozialistischen Revoluzzer zu verstehen. Oder als apokalyptischen Weltuntergangsprediger. Oder manches andere.
Nicht mit Spott reagieren
Gerade diese Erfahrung sollte Christen vorsichtig machen, mit Spott zu reagieren. Marx ist nun, das braucht man nicht extra betonen, nicht als Sohn Gottes verehrt. Aber seine Beziehung zu der ihm zugeschrieben Bewegung ist ebenso umstritten. Er mag Marxist, Romantiker, Prophet oder ganz einfacher Lebemann gewesen sein. Sicher ist, dass seine Schriften bis heute aufrütteln und erschrecken, und sich eine Beschäftigung mit diesem Mann der Geschichte ohne Frage lohnt.
Jones hat eine Biographie vorgelegt, die sich streckenweise zwar in die Länge zieht, aber eine erstklassige Einführung in Karl Marx, den Denker, bietet und die sich zu Lesen lohnt. Und dennoch scheint nach der Lektüre dieser Biographie der Schluss nahe zu liegen, dass Karl Marx selbst zu dem „Gespenst“ geworden ist, das er selbst heraufbeschworen hat im Kommunistischen Manifest. Nach den vielen Jahren, seit er auf der Erde gewandelt ist, ist aus dem kleinen Karl ein anderer Marx geworden.
Von Marcus Hübner